Der gute Stalin
sehe ich Scharen von in der morgendlichen Dunkelheit beinahe unsichtbaren Menschen, die an den Bushaltestellen in Pawlowskaja Sloboda stehen, unausgeschlafen, fix und fertig – sie fahren in die Stadt, um für ihre Kinder zu arbeiten. Mir scheint, sie arbeiten alle in Chemiefabriken. Das Lächeln der Eltern beim Verlassen der Geburtsklinik ist eine Fahrlässigkeit, für die sie bezahlen müssen. Die Kinder bemerken unsere Bemühungen nicht; mit dieser Offensichtlichkeit dürfen wir leben. Das kurze Aufleuchten der Liebe beim Essen an unserem Geburtstag erinnert an den elektrischen Blitz einer durchbrennenden Glühbirne. Die elterlichen Zärtlichkeiten – mein Sohn! – führen in eine Sackgasse, ihre Erotik ist ausweglos. Das hier ist ein großes Durchficken, und wir spielen dabei die passive Rolle der Fortpflanzung, die sich dessen längst nicht mehr bewusst ist. Nichtmehrgebrauchtwerden – das ist die endgültige Formel der elterlichen Verlassenheit im Alter. Mit dem Erbe kaufen wir uns nicht los, selbst wenn es unverhofft eines gäbe. Auf den Müll geworfene Stühle – das ist alles, was von uns bleibt.
Kinder sind unmenschlich. Unser ganzes Leben sind wir ergriffen von Angst um sie und von peinlichem Stolz, der in unseren Erzählungen über sie, die, von außen betrachtet, lächerlich wirken, immer wieder durchkommt. Es ist unangenehm, wenn unsere Kinder dumm und hässlich werden, aber allzu schlaue und erfolgreiche Kinder machen uns Komplexe und werden zu Richtern unserer Misserfolge. Die Eltern verstecken die Mängel ihrer Kinder; die Kinder sind leicht zu einem Gespräch über die Mängel ihrer Eltern zu provozieren. Mehr noch, unsere Kinder verraten uns permanent mit ihrer Existenz an sich. Natürlich gibt es auch Fälle von Hochachtung für die Eltern. Nabokov vergötterte seinen Vater, und teils aus diesem Grund hasste er Freud. Aber sein idealer Vater ist eine Kopfgeburt, bequem für die Literatur, aber nicht fürs Leben. Wir dramatisieren jede Kleinigkeit, die mit den Kindern geschieht, sie banalisieren unsere Dramen, falls sie sie überhaupt bemerken. Die Eltern haben bereits das Wichtigste in unserem Leben getan – sie haben uns geboren. Alles Übrige ist unwesentlich.
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»Meine Lehrerin in Diplomatie war Alexandra Michailowna Kollontai«, sagte Vater mit berechtigtem Stolz oft zu mir.
1942 bewahrte Schweden seine Neutralität. Goebbels’ Propaganda wurde hier eifrig verbreitet. Auf der Hauptstraße Kungsgatan hing ein großer Spiegelschaukasten des deutschen Informationsbüros mit Fotos von der Ostfront, auf denen die großen Siege des arischen Soldaten gepriesen wurden. Der Schaukasten wurde oft von norwegischen Studenten eingeworfen. Die Deutschen mussten immer wieder neue Scheiben einsetzen, die dann erneut eingeworfen wurden. Die Faschisten ihrerseits warfen das Schaufenster des sowjetischen Informationsbüros am Bahnhofsvorplatz ein, in dem die Wassili Tjorkins lachend ihre Zähne zeigten (Lachen ist stärker als Lächeln), aber es war aus einfachem Fensterglas und daher leichter zu ersetzen.
Diplomatie ist eine merkwürdige Sache. Die Fortsetzung des Krieges mit friedlichen Mitteln? Wie glänzend die Kollontai die Verhandlungen über das Ausscheiden Finnlands aus dem Krieg führte! Da sie von dem engen Verhältnis zwischen Markus Wallenberg und dem finnischen Präsidenten Ryti wusste, suggerierte sie ihm vorsichtig, aber hartnäckig den Gedanken der Notwendigkeit, auf die Finnen einzuwirken, damit sie unverzüglich den Krieg gegen die Sowjetunion beendeten. Wallenberg hörte auf sie und flog nach Helsinki – Alexandra Michailowna schickte ein Telegramm nach Moskau mit der Empfehlung, in diesen Tagen die Bombardierung der finnischen Hauptstadt zu verstärken.
»Sie verstand es meisterhaft, ihre persönlichen Beziehungen für die staatlichen Interessen der UdSSR zu nutzen«, betonte Vater in einem Gespräch mit mir.
»Die Schweden«, erklärte die Kollontai den Botschaftsmitarbeitern, die sich um ihren Rollstuhl versammelt hatten, »hegen mit Ausnahme von rein faschistischen Gruppen keine Sympathie … Was machen Sie da, Petrow?«
»Gar nichts.«
»Eben … Also, Petrow, Sie sollten wissen, dass die Schweden keine Sympathie für das Hitler-Regime hegen und auch nicht wünschen, dessen Auswirkungen am eigenen Leib zu erfahren.«
Vater war oft anwesend, wenn Alexandra Michailowna in ihrem Zimmer schwedische Minister für Abweichungen von ihrer Neutralität abkanzelte.
»Also
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