Der gute Stalin
dabei, ihr ein Kleid zu ändern. Nina Wassiljewna hatte versprochen, ihr diese Arbeit zu bezahlen. Ist kommunistischen Sex zu betreiben dasselbe, wie »ein Glas Wasser« zu trinken? Die Kollontai war prinzipiell gegen eheliche Beziehungen und fand, dass die Familie den Egoismus züchte und festige, der wiederum den Aufbau des Kommunismus erschwere. Dennoch heiratete sie Dybenko.
KOLLONTAI Ich war siebzehn Jahre älter als Pawel, aber das störte mich keineswegs. Wir sind jung, solange wir geliebt werden. Aber mit der Zeit fand ich es belastend, die Frau eines Divisionskommandeurs zu sein, und er – der Mann einer Repräsentantin der UdSSR . Ach, und die Liebe ging auch vorbei.
Die Kollontai war nicht nur eine Bolschewikin, sondern auch eine Sex-Revolutionärin – eine Legende des russischen Silbernen Zeitalters, Pralinenliebhaberin, bisexuelle Kämpferin für die freie Liebe der »Arbeitsbienen«. Lenin schüttelte es bei Kollontais Theorie. Auch mein Vater ließ sich von ihr nicht recht bekehren. Am Blutsonntag von 1905 war sie zum Winterpalais gegangen, Schüsse fielen, sie floh – viele Jahre später fand mein Vater sie gelähmt und im Rollstuhl vor. Nun war die Kollontai weit davon entfernt, ihr »Glas« zu leeren, und sublimierte ihre Situation mit großer Politik. Als Iwan Petrowitsch nach Hause kam, berieten sie sich lange. Fast alle Nachbarn waren verhungert. Großmutter nähte; das bewahrte sie vor dem Hungertod. Die Leichen musste man auf Schlitten ins Medizinische Institut von Boris Erisman bringen. Das Geräusch der mit Raureif bedeckten Haare der Toten im Wind fraß sich unangenehm in den Kopf hinein. Petrow betrat den Raum. Petrow, der Gehilfe des KGB -Residenten für die Überwachung der sowjetischen Kolonie, sagte zu Vater:
»Merkst du nicht, die ist nicht eine von uns, sie umgibt sich mit suspekten Leuten, das Dienstmädchen ist Schwedin, der Fahrer ist auch Schwede.«
Vater weigerte sich, mit Petrow zu kooperieren.
»Das wird dir noch Leid tun, aber dann ist es zu spät«, sagte Petrow. Bis dahin hatte er noch keinen Druck auf Vater ausgeübt.
»Ich werde der Kollontai darüber Bericht erstatten«, sagte Vater.
Petrow beschimpfte Vater auf üble Weise. Später arbeitete er in Australien und verschwand mit der Botschaftskasse. Einige der jungen einsamen Männer ertrugen den langen Auslandsaufenthalt nicht. Arkadi, ein Freund von Vater, schrieb, nachdem er wiederholt vergeblich um Ablösung gebeten hatte, eine anonyme Denunziation seiner selbst und schickte sie nach Moskau. Darin wurden detailliert seine Sauftouren und seine nächtlichen Begegnungen mit Prostituierten in irgendwelchen Parks beschrieben. Er wurde unverzüglich abberufen. Anfang August 1944 kam plötzlich ein Telegramm mit der Aufforderung, Vater nach Moskau abzuordnen. Die Kollontai war äußerst beunruhigt. Sie schickte eine Absage nach Moskau. Sie hatte sich schon an Vater gewöhnt. Mehr noch, sie hatte ihn lieb gewonnen. Aber Männer sind begriffsstutzig und verstehen nicht, dass auch eine behinderte Frau eine Frau ist. In den schwedischen Nächten, in der Pause des täglichen Spiels mit den Finnen um ihr Ausscheiden aus dem Krieg, sprachen sie Französisch miteinander.
»Wie sagt man ›Beziehung‹ auf Französisch?«
» La liaison .«
Mein Vater ist ein Idiot. Moskau schickt ein zweites Telegramm. Die Kollontai sagt wieder nein. Da kommt aus Moskau ein Telegramm mit der Unterschrift Molotows. Die Kollontai breitet hilflos die Arme aus:
»Ich verstehe nichts, aber Sie müssen fahren.«
Ilja Tschernyschow mit den schwarzen Augenbrauen – in dessen Moskauer Wohnung meine Eltern einzogen, nachdem er viele Jahre später als sowjetischer Botschafter in Brasilien ertrunken und dessen Gehilfen beim Rettungsversuch von einem Hai der Kopf abgebissen worden war; obwohl Mama nichts von diesem Unglück wusste, träumte sie von ihrem Sohn, der einen Fisch ohne Kopf fängt –, dieser Botschaftsrat Tschernyschow fragte halb im Scherz, halb im Ernst meinen Vater:
»Was hast du verbrochen, dass man dich so kategorisch abberuft?«
Vater schwieg. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
*
»Hast du gedacht, dass man dich verhaftet, wenn du in Moskau ankommst?«
»Wofür?«
»Für nichts. Und warum hast du so lange gebraucht für die Rückreise?«
»Der Krieg«, sagte Vater spöttisch.
Vor ihm entfaltete sich die Befreiung Europas in ihrer ganzen Pracht. Er fuhr fort, die Rolle eines sowjetischen Candide zu spielen. Ende August
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