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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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wirklich, Freunde!«
    »Verzeihen Sie uns, Genossin!«, sagten die Minister und erröteten.
    Begeistert von der Kollontai, erzählte Vater mir einmal, dass sie auf dem Höhepunkt des Krieges die Statue Karls XII., dessen Finger auf den Feind Russland zeigte, in Richtung Deutschland umgedreht habe. Die Geschichte konnte nicht als authentisch bestätigt werden, hat sich mir aber tief in der Seele eingeprägt. Die Botschaft stützte sich auf die starke Antikriegsstimmung des schwedischen Volkes. Wladimir arbeitete fast den ganzen Krieg hindurch als Referent der Botschafterin. Die erste Zeit nach seiner Ankunft wohnte Vater in einem Hotel. Eines Nachts wurde er von einer Erscheinung geweckt: In seinem Zimmer erschien ein Mädchen, das eine Krone mit brennenden Kerzen auf dem Kopf trug. Vater rieb sich die Augen: Ein Traum? Eine Provokation? Die lange Abstinenz? Das Mädchen trat an sein Bett und hielt ihm lächelnd ein Tablett mit Kaffee und Keksen hin. Vater richtete sich auf, das Kissen im Rücken, trank den Kaffee und biss in einen der knusprigen Kekse. Immer noch lächelnd, entfernte sich das Mädchen und schloss die Tür hinter sich. An den Wänden der Säle, in denen Dinners und Empfänge gegeben wurden, hingen große Teller, die die Kollontai von den Arbeitern der Leningrader Porzellanfabrik geschenkt bekommen hatte. Sie trugen Aufschriften wie »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!«, »Das Königreich der Arbeiter und Bauern wird niemals enden!«.
    Die Kollontai zog Vater zu nächtlicher Arbeit an ihren Memoiren heran. Mitten im Krieg, auf dem Höhepunkt des Stalinismus, schrieb sie ihre Memoiren auf Französisch für einen mexikanischen Verlag. In ihrem Zimmer stand eine eisenbeschlagene Truhe. Mit ihren langen alten Fingern setzte sie den Rollstuhl in Bewegung, fuhr zu der Truhe und hob mit Vaters Hilfe den schweren Deckel an: Auf dessen Innenseite waren Schildchen mit dem Zarenadler zu sehen. Sie versenkte ihre Hand in der Tiefe der archäologischen Schichten und beförderte Briefe von Lenin, Martow und Rosa Luxemburg an die Oberfläche. Sie betrachtete die Fotos mit Plechanow mit persönlichen Widmungen und gestand:
    »Die Nähe zu ihm hat mich lange davon abgehalten, zu den Bolschewiki überzuwechseln.«
    Die Kollontai wurde Mitglied der ersten Regierung unter Lenin, doch sprach sie sich gegen den Frieden von Brest-Litowsk aus, und mit ihrem Freund Schljapnikow gründete sie die liberale Arbeiteropposition, nach deren Zerschlagung sie die Regierung verließ. Manchmal lehnte sich Alexandra Michailowna in ihrem Rollstuhl zurück und erzählte Vater vertraulich von sich. Sie sagte, sie habe mehrere verschiedene Leben gelebt, deren Bindeglied eine wichtige Eigenschaft ihres Charakters bilde – Aufrührertum.
    KOLLONTAI Ich war ein Fräulein der Petersburger Gesellschaft, und meine adelige Herkunft hilft mir in Schweden. Die konservativen Schweden haben einen Aristokratenspleen und verzeihen mir meinen Bolschewismus und die Tatsache, dass ich Gesandte der UdSSR bin, dank meiner adeligen Vergangenheit.
    Vor langer Zeit, im September 1914 , hatte der schwedische Innenminister verfügt, die Kollontai wegen revolutionärer Propaganda zu verhaften. König Gustav V. unterzeichnete die Anordnung über ihre Ausweisung aus Schweden für alle Zeiten. Mit einem listigen Blitzen in den großen blauen Augen, die dichten Brauen hochziehend und den Kopf schüttelnd, erzählte die Kollontai Vater, dass es demselben Gustav V. wohl etwas peinlich gewesen sei, als er 1930 von ihr, der Bevollmächtigten Vertreterin der UdSSR , die Akkreditierung entgegennehmen musste. Seine alte Anordnung hatte der König heimlich annulliert. Iwan Petrowitsch arbeitete weiter bei der Eisenbahn. Jeden Tag schleppte er sich vom Sagorodny-Prospekt zum Oktober-Bahnhof. Er war so mager geworden, dass ihm seine Hosen nicht mehr passten, und er trug stattdessen die engen Komsomolzenhosen seines Sohnes. Im Schnellzug, der Vater nach Südschweden brachte, lernte er ein blondes Mädchen kennen. Bevor sie ausstieg, zog sie eine SS -Uniform an. Artilleriefeuer krachte. Durch Großmutters offenes Fenster flog der abgerissene Kopf der Nachbarin herein. Großmutter wusste nicht, was in solchen Fällen zu tun war. Sollte sie den Kopf dem Nachbarn zurückgeben? Die Miliz rufen? Ihn in den Hof hinaustragen?
    »Was ist Ihnen da bloß eingefallen, Nina Wassiljewna?«
    Mit der Nachbarin hatte Großmutter freundschaftliche Beziehungen unterhalten: Sie war gerade

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