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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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1944 verließ er Schweden mit einer Douglas, einem englischen Militärtransporter. Das Flugzeug brachte Norwegen wohlbehalten hinter sich und überquerte die Nordsee, doch beim Anflug auf Schottland – das hatte gerade noch gefehlt – wurde es von einem deutschen Abfangjäger beschossen. Die rechte Tragfläche fing Feuer. Der Pilot versuchte durch Manövrieren die Flammen zu löschen, doch ohne Erfolg. Qualm drang in den Innenraum. An der Decke hing über den Köpfen der Passagiere der Brennstofftank aus Gummi. An der schottischen Küste gab es zahlreiche Militärflughäfen, und der Pilot setzte zur Landung an. Sobald das Flugzeug am Boden war, sprangen Vater und die anderen Passagiere nach draußen und rannten, so schnell sie konnten, um hinter dem nicht weit entfernten Hangar Schutz zu suchen.
    Ich sehe, wie mein Vater rennt, den Hut auf dem Kopf festhaltend, und plötzlich wird mir bewusst, dass er nicht um sein Leben fürchtet: Er besitzt einen Schutzbrief, der aus beinahe jungenhaftem Leichtsinn, Leidenschaftlichkeit und Gleichmut gegenüber jeglicher Gefahr besteht. Auch der Koffer blieb ganz; die Feuerwehr war sofort zur Stelle. Mit Sand und Schaum löschten sie die Flammen. In dem dunkelbraunen schwedischen Koffer mit den soliden silbernen Schlössern lebten Papas schwedische Anzüge ein endloses unnützes Leben mit Naphtalin in Großmutters Wohnung bis zu deren Tod. Anastassija Nikandrownas Haut blieb wie die eines Mädchens, ihr Bewusstsein ungetrübt bis zum Ende, trotz einer fatalen Krankheit: Rückenmarksentzündung. Die Krankheit lähmte sie bis zur Hüfte und näherte sich schon der Lunge, doch Großmutter gewann ihre Schlacht um Stalingrad, schleuderte dieses Kreuz weit von sich und entwickelte sich im Laufe von fünfzehn Jahren (sie klagte über ständiges Brennen in den Beinen) zu einem lebenden Wunder für zukünftige Mediziner. Seltsam, dass meine Zeit nicht reicht, um auf Großmutter stolz zu sein. Sie starb im Alter von 96 Jahren auf der Intensivstation eines Krankenhauses in Kunzewo. Bei der stummen Trauerfeier wartete die Familie auf Vaters Entscheidung. Ästhetik avant tout . Er ging in den Nebenraum und warf einen Blick in den Sarg: Großmutter war schön. Er nickte: Sie können sie zu ihrer Familie hinaustragen. Wir verabschiedeten uns von ihr, mit einem Strauß mit gerader Anzahl von Blumen. Auf dem Wagankowo-Friedhof bekreuzigte Mama die alte Frau, die sie in den letzten zehn Jahren nicht gesehen hatte, und verzieh ihr auf immer.
    In London erwartete Vater eine weitere Prüfung: ballistische V2 -Raketen. Sie flogen London in großer Höhe mit Überschallgeschwindigkeit an und fielen so, dass zuerst ein ungeheures Explosionsgeräusch zu hören war und erst danach ein die Luft durchbohrendes Pfeifen. Die Deutschen hatten den Engländern über die neue Waffe keine Mitteilung gemacht, und zunächst konnte niemand begreifen, was einem da auf den Kopf fiel. Alle lebten in der Gefahr eines unverständlichen und plötzlichen Todes. Nach Absprache mit den Amerikanern begab sich Vater zum Luftwaffenstützpunkt der USA in Südwales. Von dort sollte er nach Casablanca, dann nach Kairo und schließlich nach Moskau gebracht werden. Die tapferen amerikanischen Piloten flogen immer leicht angeheitert. Die zweite Front war eröffnet, trotz Churchills Zögern. Das Schlimmste schien man überstanden zu haben. An einem frühen Herbstmorgen setzte man Vater in einen schweren Bomber, wie er ihn schon von seinem Flug nach Schweden kannte. Er machte es sich in dem Metallsitz bequem, deckte sich mit einem Plaid zu und begann zu dösen; der Flug nach Marokko würde mindestens sechs Stunden dauern. Er schläft, und plötzlich spürt er, dass das Flugzeug landet. Vater fragt den Kopiloten, was los sei.
    »Wir haben Befehl, in Frankreich zu landen.«
    Vater blickte aus dem Fenster. Überall die Spuren heftiger Kämpfe. Unter der Tragfläche lag eine große verbrannte Stadt der Normandie. Das war Caen. Bei der amerikanischen Truppenführung in Frankreich wunderte man sich, als man meinen sowjetischen Vater vor sich sah. Statt weiterzufliegen, bot man ihm an, zusammen mit Offizieren in einem Jeep durch ganz Frankreich bis Toulon zu fahren. Wladimir fuhr los, durchgerüttelt auf den Armeestoßdämpfern. Was ist Glück? Realisierte Unmöglichkeit. Die Zählung war eröffnet. Die Punktzahl stieg. Frankreich war sogar in seinem entlarvten Kollaborationismus schön. An den Straßen standen leicht gelb schimmernde

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