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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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linken Zeigefinger. Da war ich in der siebten Klasse und habe mit einem langen Messer mit Holzgriff Radieschen geputzt. In der Küche. Blut. Narben an Fingern. Wir sind gezeichnet. Aber bei ihr, sagt sie, sei das Fingerglied überhaupt abgeschnitten gewesen, sie habe es schnell wieder angesetzt und es sei angewachsen. Wie, angewachsen? Das gibt es nicht. Deinen Finger kann es nicht geben, dich selbst auch nicht, das gibt es einfach nicht.
    Ich sehe die überirdische Wendung ihres Kopfes, ihres schönen Kopfes mit dem schwarzen Haar, ihre von der Aufregung leicht feuchten Augen – es ist Winter, wir stehen auf dem Boulevardring in Moskau – wir müssen eine Entscheidung treffen – sie ist schwanger von mir – ich kann mein Glück nicht fassen.
    Austa!, denke ich. Hauptmannstochter! Wie hast du dein Leben gelebt? Wo bist du? Wer ist bei dir? Wie viele Kinder hast du? Wahrscheinlich schon Enkel. Wie geht es deinen beiden Schwestern? Was ist aus ihnen geworden? Und was ist aus uns geworden?
    *
    Nachdem in Island auf der »Lord Middleton« alles in Ordnung gebracht ist, nimmt sie Kurs auf die Britischen Inseln. Und wieder gerät Vater – wie oft eigentlich noch? – in tödliche Gefahr. Spätabends, als die Mannschaft sich schon zur Ruhe begeben will, wird Alarm gegeben:
    »Feindliches U-Boot in Sicht!«
    Vater springt aus der Koje, klettert rasch die Eisenleiter hoch, die zum Deck führt. Wie ein erfahrener Matrose lauscht er dem Rhythmus der Wellen, die übers Deck schlagen. Er passt den richtigen Moment ab und drückt die schwere Tür auf. Er schlüpft nach draußen. Bis zur Treppe auf die Brücke sind es sechs Meter. Er hat bereits einen großen Teil des Weges hinter sich, als er das wütende Geschrei des Kapitäns hört. Er beschimpft Vater unflätig durch sein Megafon; Wladimir hat die Tür zum Schiffsbauch nicht zugemacht. Von dort dringt grelles Licht nach außen – eine hervorragende Zielscheibe für die Deutschen!
    Vater macht mitten im Lauf kehrt. Eine schwere Woge schwappt über ihn, reißt ihm die Füße weg, aber irgendwie kriegt er den Türgriff zu fassen – er hängt, baumelt wie ein Hampelmann in der Luft, die nächste Welle befördert ihn mit einem Fußtritt nach innen. Nass bis auf die Haut, zähneklappernd vor Kälte und Schock, versucht er es doch noch einmal. Diesmal schafft er es, bis zur Treppe zu kommen, die auf die Brücke führt. Auf der schrägen Oberfläche des Meeres sieht er ein flimmerndes grünliches Licht. Das Minensuchboot nähert sich ihm vorsichtig. Die Schotten halten das nicht identifizierte Objekt im Visier ihrer Geschütze. Gleich wird das Seeduell beginnen. Vater beißt die Zähne zusammen. Er kann nicht beten.
    Aber wie groß ist seine Verwunderung, als man sich dem rätselhaften Licht nähert und die Matrosen einen treibenden Balken entdecken, der in malachitgrünem Licht phosphoresziert! Der Balken zersplittert, als er beschossen wird. Die ganze Mannschaft lacht noch lange über den Wachhabenden, der Alarm gegeben hat wegen eines Balkens, der sich in der Nacht auf dem Meer verirrt hatte.
    *
    Das Deck wurde geschrubbt, Metallgriffe und Reling wurden abgerieben, bis sie glänzten. Und endlich die Ankunft. Die Stadtverwaltung von Edinburgh, die die »Lord Middleton« verloren geglaubt hatte, bereitete der Mannschaft einen triumphalen Empfang. Ein Militärorchester mit Dudelsäcken spielte Bravourmärsche im Wind. Die Ehrenwache aus kräftigen Schotten in karierten Röcken und bunten Kniestrümpfen stand vor dem Rathaus stramm. Dort erwartete die Seeleute ein Festessen: Sie aßen Innereien auf schottische Art. Irgendwas Graubraunes. »Sieht aus wie Scheiße«, dachte Vater, als er sich mit seinem ersten Diplomatenlächeln etwas Haggis auf den Teller legte. Nachdem er es probiert hatte, sagte er sich ohne jede Diplomatie: »Besser, es wäre Scheiße!« Zum ersten Mal im Leben stand Vater vor einem großen ausländischen Publikum. In der schäbigen Feldbluse sah er seltsam aus. Aber niemand maß dem irgendeine Bedeutung bei. Ganz Edinburgh starrte diesen lebendigen sowjetischen Menschen an, der aus dem kämpfenden Russland gekommen war.
    »Wohin fährst du? Wir stechen bald wieder in See. Willst du nicht mitkommen?«
    In einem altmodischen Schlafwagencoupé reiste Wladimir ab. Der Kapitän und sieben Matrosen begleiteten ihn zum Bahnhof. Sie tranken viel Whisky, direkt aus der Flasche. Die Männer umarmten sich, dann winkte Vater ihnen noch lange aus dem Fenster zu. Bewaldete,

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