Der gute Stalin
die Kollontai an, ohne seinen künftigen Mitarbeiter zu unterbrechen oder zu ermuntern. Die Kollontai mochte Molotow auch nicht besonders, obwohl sie keine unbedeutende Rolle in seinem Leben gespielt hatte: Als sie die Molotow unterstellte Frauensektion des ZK leitete, machte sie ihn mit Polina Semjonowna Shemtschushina, seiner zukünftigen Frau, bekannt.
In den ersten Monaten der Arbeit mit Molotow konnte Vater sich des Gefühls nicht erwehren, dass man ihn demnächst aus dem Amt jagen würde, und wenn man dies bisher nicht getan hatte, dann nur deswegen, weil man noch keinen Ersatz für ihn gefunden hatte. Molotow schlug nicht mit der Faust auf den Tisch wie Kaganowitsch, dem die Mitarbeiter an Herzinfarkt wegstarben, aber er gebrauchte beleidigende Ausdrücke wie »Schlafmütze« und »Tante«. Er verlangte von Vater, dass er seine Unterschrift ändere, der Name sollte gut leserlich sein wie bei ihm selbst. Als er einmal überraschend früher als gewöhnlich von Stalin zurückkam, zu dem er jede Nacht ging, fand er Vater beim Schachspielen mit dem Chefreferenten Podzerob, der Meisteranwärter war.
»Ich habe früher auch Schach gespielt«, sagte Molotow, die Spieler betrachtend, »als ich im Gefängnis saß, in einer dunklen Zelle, wo man nicht lesen und auch sonst absolut nichts tun konnte.«
*
Vater war in Abreisestimmung. In zwei Tagen sollte er für unbestimmte Zeit nach Paris fliegen, zu einer Friedenskonferenz. Am 26 . Juli 1946 stand er am Fenster seines Arbeitszimmers im Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten.
Unsere Familie hatte ihren eigenen Abriss der Geschichte der KPR ( B ): die offizielle Version der Beziehung meiner Eltern. Sie lernten sich 1937 an der Philologischen Fakultät der Universität Leningrad kennen. Der kurze Abriss räumte ein, dass es zunächst bei einer Bekanntschaft blieb. Beiläufig wurde mitgeteilt, dass beide ihre eigenen Geschichtchen hatten.
Diesem Abriss entsprechend gingen meine zukünftigen Eltern nach Moskau, um das Dolmetscherinstitut zu besuchen. Dort begegneten sie sich ebenfalls, mehr aber nicht. Dann waren sie den ganzen Krieg über getrennt. Mama wurde nach Fergana in Mittelasien evakuiert. Sie hatte eine Affäre mit einem anderen. Briefe schrieben sie sich keine.
Dann tritt in meinem Familiengeschichtsabriss unerwartet ein großer, durch nichts vorherbestimmter Moment der Erleuchtung ein. Am 26 . Juli 1946 steht Papa also am Fenster des Außenministeriums (damals noch Volkskommissariat) und sieht Mama, die über den Kusnezki Most geht. Plötzlich begreift er, dass sie sein Schicksal ist. Er rennt auf die Straße hinaus und macht ihr einen Antrag. Der Antrag wird angenommen. Sie laufen aufs Standesamt. Papa muss dringend irgendwo hinfliegen, nach San Francisco oder Paris. Besser also nichts hinausschieben.
In dieser Geschichte ist alles gut, abgesehen davon, dass, wie Mama eines Tages (an ihrem Hochzeitstag) bemerkte, die Fenster des Ministeriums nicht auf den Kusnezki Most hinausgingen. In der Folge tauchten Phantomgestalten auf. Sie gehörten offensichtlich in die Apokryphen. Mama sagte betont nebulös, dass bei einem gewissen Treffen »noch jemand« dabei gewesen sei, und auch sonst blieb einiges recht nebulös, aber wohin auch immer die Fenster zeigten, ein Jahr später wurde ich geboren.
Also, Vater erblickte eine alte Bekannte: Galja Tschetschurina, die mit einer Freundin die Lubjanka hinunter in Richtung Kusnezki Most ging. Er rannte auf die Straße hinaus, holte die beiden Freundinnen ein und hielt sie an:
»Wohin geht ihr?«
»Zur Sportparade.«
In Wirklichkeit gingen die Freundinnen über den Kusnezki Most zur Lubjanka hinauf, und Papa konnte sie aus seinem Fenster gar nicht sehen. Meine atheistische Mutter ist bis heute davon überzeugt, dass hier Mystik im Spiel war. Zufällige Ereignisse kamen in einer metaphysischen Dimension zusammen, um mich in die Welt hinauszustoßen wie einen Fallschirmspringer, der auf einmal den Mut verloren hat, aus dem Flugzeug.
Die Freundinnen Galja und Ljuba (genau die Ljuba, die ihr Papa ausgespannt hatte, so dass ihr nur noch seine Briefe geblieben waren, die er zu ihrem Entzücken mit »Wladimir« unterschrieben hatte) waren unterwegs zum »Dynamo«-Stadion. Aus dem Stand machte Vater Galja einen Heiratsantrag (nicht Ljuba, mit der er die Diversionsschule besucht hatte, wo er sich ein Bein brach, wonach sie sich getrennt hatten: Sie ging nach Algerien, zu de Gaulle, und er nach Schweden). Galja war
Weitere Kostenlose Bücher