Der gute Stalin
liebenswürdig und wohlgefällig zulächelnd, löst in mir eine merkwürdige Gerührtheit aus. Ich habe sogar ein Kribbeln in der Nase. Warum? Berechtigte Einwände – erstens, zweitens, drittens – gibt es genug. Andererseits ist es so angenehm, dass Vater in diesem Moment im Halbdunkel des Vorführraums den Mount Everest des Erfolgs erklommen hat, ich bin so glücklich für ihn, und alle, denen ich davon erzähle, sind gerührt. Der Grund für diese Rührung ist wahnsinnig. Mit derselben Begeisterung wird in Memoiren von Begegnungen mit Hitler, Mao oder Kim Il Sung erzählt.
Grenzenlose Macht berauscht. Sich mit dem Herrscher zu zeigen bedeutet, zu den Erwählten zu gehören, an historischer Exklusivität teilzuhaben. Mein Verstand sagt mir, dass dieser feige Abschaum, diese Politbüromitglieder, die meinem Vater zulächeln, all diese Woroschilows, Kaganowitschs, Berijas, dass sie eine Herde von Wölfen sind, bereit, ihn auf freiem Feld, im Schnee und bei Mondschein in Stücke zu reißen. Ich höre sie heulen. Wenn sie Papa fressen, dann wird er wie sie und verwandelt sich in einen jungen Wolf. Alles Ignoranten und Verbrecher, die aufgehängt gehören. Vaters Vorgesetzter Molotow ist ein ideologisch tollwütiger Wicht mit heuchlerischem Gesicht. Stalin ein politischer Massenmörder. Was ich mit denen tun würde? Umbringen. Mit ihnen habe ich nichts zu bereden. Aber aus irgendeinem Grunde werde ich trotzdem weich, es ist mir angenehm. Das ist die Illusion eines Orgasmus.
Die Wahrheit der Staatsmacht basiert nicht auf Mitgefühl. Sie ist den Mördern vorbehalten. Die russische Staatsmacht ist grob, wie ausgekotzt, sie besteht aus Männerwitzen, obszönen Flüchen, blutigen Steaks, Vergesslichkeit, trübem Kopf, ewiger Sauferei, Sadismus, Straflosigkeit, Erniedrigung von allem und jedem – sie ruft in mir Ekel und Widerwillen hervor. Würden sie mich mit ihrer zynischen Vertraulichkeit einwickeln, ich würde gleich am nächsten Tag allen erzählen, wie beschissen ich sie finde. Wenn aber die Staatsmacht es sich zur Aufgabe machte, mich zu kaufen, würde ich in eine schwierige Situation geraten. Mir gefällt es, daran zu denken, wie die Rotarmisten junge Adlige vergewaltigt und umgebracht haben. Ich liege da und stelle es mir vor. Ich bin ein virtueller Peiniger, der in der Realität Gewalt verabscheut und es nicht einmal aushält, von irgendwelchen Idioten kumpelhaft geduzt zu werden. Aber warum bin ich nicht gleichgültig, warum treibt mich dieses Thema um? Warum reagiere ich überhaupt so empfindlich darauf, warum bin ich so kleinlich besorgt? Der Ruhm des Schriftstellers ist der Schatten der Macht. Aber manchmal möchte man aus dem Schatten heraustreten.
*
Stalin verblüffte Vater bisweilen mit seiner Menschenliebe. Mal tauchte er, der immer Geschäftige, auf seiner Datscha im Zimmer eines Referenten auf, um zu überprüfen, wie man ihm das Bett gerichtet hatte, fühlte, ob die Kissen auch weich waren, mal schien er Verständnis für Dinge zu zeigen, die er eigentlich nicht durchgehen lassen konnte. Vaters Kollege Iwan Iwanowitsch Lapschow, der in Stalins Residenz in Sotschi zum Abendessen einen über den Durst getrunken und sich in den Fluren verlaufen hatte, fand mit Mühe das ihm zugewiesene Zimmer. Er setzte sich an den Tisch, zog die Schublade heraus und – wurde schlagartig nüchtern, als er die Pfeifensammlung erblickte. Hinter ihm ertönte die Stimme des »großen Hausherrn«:
»Was wühlen Sie da in meinem Schreibtisch herum?«
Der arme Apparatschik kam mit einem Riesenschreck davon. Dabei bekräftigte Vater, dass Stalin keine Vertraulichkeiten geduldet habe. Als Beispiel dafür führte er eine Geschichte an, die dem sowjetischen Botschafter in Polen, Lebedew, passiert sei, der öfter mit Gomułka und anderen führenden polnischen Politikern zu Verhandlungen nach Moskau kam und an vertraulichen Gesprächen im Kreml teilnahm. Lebedew erlaubte sich 1951 , aus Warschau sein Buch über den Aufbau der Grundlagen des Sozialismus in den Ländern der Volksdemokratie mit dem Begleitvermerk an Stalin zu schicken: »Gen. J. W. Stalin zur Begutachtung«. Unter diesen Begleitvermerk schrieb Stalin seine Anordnung: »Abberufen«.
*
Am liebsten aber erzählte Vater immer von dem großen Bankett im Kreml-Palast. Er sitzt neben Stalin und dolmetscht eine gemächliche Unterhaltung mit dem Ehrengast. Der Führer in der cremefarbenen Paradeuniform des Generalissimus ist guter Stimmung und nippt hin und wieder an
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