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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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will das nicht weiter ausführen), ich solle sofort in den Kreml kommen; das Auto sei schon losgefahren. Mit nassen Haaren rannte ich die Treppe hinunter.
    Stalins persönliche Limousine brachte mich auf dem Mittelstreifen rasch zum Erlösertor. An der Wache vorbei eilte ich in den ersten Stock des Regierungsgebäudes hinauf und stürmte den langen schmalen Flur entlang. An einer Biegung des Flurs rutschte ich auf dem eisglatten Parkett aus und schlug mir das Handgelenk blutig. Ich stand auf und umwickelte es rasch mit meinem Taschentuch. Am Ende des Korridors stand Poskrjobyschew, Stalins Chefreferent, und stieß obszöne Flüche aus ob meiner Trödelei. Immer weiter schimpfend, packte er mich buchstäblich am Schlafittchen und schob mich durch die Doppeltür in Stalins Arbeitszimmer.
    An dem langen Tisch saßen sich schweigend zwei Delegationen gegenüber: die unsere, alles Politbüromitglieder, und die ausländische. Der ›große Hausherr‹ stand mitten im Raum, die Pfeife im Mund. Auf meinen Gruß nickte er mir knapp zu und verwies mich auf meinen Platz am Kopf des Tisches. Ich legte mir den Notizblock auf den Knien zurecht, um so meine verletzte Hand zu verbergen. Stalin ging in weichen Stiefeln lautlosen Schrittes hinter meinem Rücken auf und ab. Ich notierte wie gewöhnlich und dolmetschte.
    Plötzlich verstummte Stalin. Er näherte sich mir, deutete auf mein Taschentuch und fragte misstrauisch:
    ›Was ist mit Ihrer Hand?‹
    ›Nichts weiter, Jossif Wissarionowitsch, ich habe mich ein wenig gestoßen, eine Lappalie‹, murmelte ich nicht sehr deutlich.
    ›Na, sagen Sie schon!‹, bestand er auf einer Erklärung.
    ›Ach, ich bin hingefallen, es ist nichts Schlimmes.‹
    ›Wie, hingefallen, wo?‹
    In diesem Moment öffnete sich die Tür, und ins Zimmer stürmten ein Arzt mit seinem Köfferchen und zwei Assistenten, alle drei in heller Aufregung. Ihnen auf den Fersen Poskrjobyschew. Während Stalin mit mir sprach, hatte er unbemerkt einen Knopf unter der Tischplatte gedrückt und ärztliche Hilfe herbeizitiert. Dort glaubte man, mit ihm sei etwas nicht in Ordnung, und läutete Sturm. Stalin bemerkte den befremdeten Blick des Arztes und sagte ruhig:
    ›Sehen Sie nach, was mit seiner Hand los ist.‹
    Der Arzt stürzte auf mich zu und wusch und verband mir mit Hilfe seiner Assistenten rasch die geschwollene Hand.
    ›Sie können gehen‹, befahl Stalin, und die ärztliche Hilfe verschwand ebenso hurtig aus dem Zimmer, wie sie aufgetaucht war. Die Anwesenden verfolgten schweigend diese Szene. Die Unterredung wurde wieder aufgenommen.«
    Die Geschichte mit der Hand fand ihre Fortsetzung. Nach einem Empfang fasste Stalin Molotow an der Schulter und fragte ihn:
    »Wjatscheslaw, sorgst du eigentlich nicht für ihn? Er ist so dünn und blass. Sag mal, kriegt er bei dir nichts zu essen, oder was? Du musst ihm zu essen geben.«
    »Mach ich doch«, knurrte Molotow, der nicht verstand, worauf Stalin hinauswollte. Er war unangenehm berührt durch Stalins Interesse an diesem jungen Mann, der gleichsam ein Vorbote für den Generationenwechsel im Kreml war.
    »Hör mal, Molotoschwili, warum schlägst du deine Mitarbeiter eigentlich nicht für staatliche Auszeichnungen vor, insbesondere die Dolmetscher?«, beharrte Stalin, wobei er Vater fröhlich wie einen Komplizen ansah. »Sie riskieren ja manchmal bei der Arbeit ihre Gesundheit! Her mit deinen Vorschlägen, wir unterstützen das!«
    Bald darauf erhielt Vater seinen ersten großen Orden, den Rotbannerorden. In seinen Erzählungen erstand ein vollkommen anderer Stalin, ein Stalin, der erfüllt war von rührender Liebe zu René Clairs Film Sous les toits de Paris (Vater dolmetschte auch Filme für den Führer), von »Bescheidenheit«, »Gutmütigkeit«, »gastfreundlichem Verhalten«.
    Als der Film zu Ende war, erhob sich Stalin für einen Augenblick aus dem Sessel, wandte sich zu Vater um und bedeutete ihm mit dem Finger, zu ihm zu kommen. Vater folgte der Aufforderung, und Stalin nahm die Flasche Sowjetskoje Schampanskoje von dem Tischchen, das vor ihm stand, und füllte ein Sektglas.
    »Danke, Genosse Stalin. Bei der Arbeit trinke ich nicht«, sagte Vater.
    Stalin schmunzelte:
    »Mach schon, trink«, sagte er. »Molotow hat es erlaubt, du hast ordentlich arbeiten müssen.«
    Molotow und die anderen Politbüromitglieder lächelten. Vater trank sein Glas mit Vergnügen aus.
    *
    Die Szene, in der Stalin meinem Vater Sekt anbietet, dem gut aussehenden jungen Mann

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