Der gute Stalin
überrumpelt, und er schleppte sie aufs nächste Standesamt. Dort behauptete man, sie würden »hier nicht wohnen«, und lehnte es ab, sie zu registrieren. Nach ergebnislosem Abklappern anderer Moskauer Standesämter (Mama wollte schon nach Hause und bekam schlechte Laune) ließen sich meine Eltern schließlich in Anwesenheit zweier zufälliger Trauzeugen auf einem kleinen Standesamt (Todesfälle und Eheschließungen wurden dort in einem Raum registriert) am Miusskaja-Platz registrieren, wo sie vor dem Krieg gemeinsam das Dolmetscherinstitut besucht und sich wenig füreinander interessiert hatten. Eine Hochzeitsfeier fand nicht statt.
*
Papa arbeitete also im Kreml. Was er da tat, wusste ich nicht genau, aber wenn ich mit meinen Freunden am Kreml vorbeifuhr (im Winter bis über die Nase in Schals gehüllt, in Biberlammpelzen, Mützen, Filzstiefeln, mit Schäufelchen ausgerüstet, um im Gorki-Park im Schnee zu spielen), dann sagte ich sachkundig zu ihnen:
»Hier arbeiten mein Papa und Genosse Stalin.«
Marussja Puschkina mit ihrem dörflichen Gerechtigkeitsgefühl versuchte, die Reihenfolge zu ändern. Ich war unerbittlich.
Papa war ein unsichtbares Wesen. Er arbeitete Tag und Nacht; Stalins Mitarbeiter gingen nach Hause, wenn es hell wurde. Manchmal wollte ich morgens zum elterlichen Bett, um wenigstens zu sehen, wie er schlief, aber man ließ mich nicht. Dafür materialisierte sich Papa an Sonn- und Feiertagen als junger grauäugiger Mann mit schräg geschnittenem Stirnhaar, und ich war selig vor Glück.
Die großen Revolutionsfeiertage liebte ich besonders. Bereits frühmorgens tönten auf den Straßen Lieder aus Lautsprechern. Aber ich wachte schon früher auf, bevor die Musik begann, vom Lärm der Panzer nämlich, die mit den »Katjuschas« und anderer Militärtechnik wie fröhliches Spielzeug, qualmend, unsere Hauptstraße hinunter in Richtung Roter Platz donnerten. Vier Führerprofile hingen, die Wangen zärtlich aneinander gedrückt, wie vier singende Fische im Aquarium zwischen langen dunkelroten Flaggen am Haus gegenüber. Papa nahm mich mit zur Parade. Er zog die hellgraue Diplomatenuniform mit den Generalssternen an, und mir gefiel, wie die Soldaten strammstanden und ihm salutierten. Ihren Höhepunkt erreichte Papas Größe jedoch nicht auf dem Roten Platz, wo ich übrigens Stalin auf dem Mausoleum nicht ausmachen konnte. Ich weiß nicht, wie es dazu kam, aber einmal fuhren Papa und ich zu meiner großen Freude mit dem normalen Vorortzug zur Datscha. Die Lok hatte rote Räder und gab einen ganz köstlichen Rauch von sich. Es war ein schöner Sommermorgen, wir stiegen an unserer Station aus, und auf dem hölzernen Bahnsteig setzte sich Papa in seiner Generalsuniform auf eine Bank, um sich einen Schuh zuzubinden, lehnte sich für einen Moment zurück und schlief ein. Der Stationsmilizionär kam auf uns zu und pflanzte sich wortlos neben der Bank auf. Ich dachte, dass ein großes Unglück über uns hereingebrochen sei, und begann zu weinen, leise, damit jener es nicht merkte. Papa rutschte die Mütze vom Kopf, er wachte auf und sah den Milizionär fragend an.
»Was tun Sie hier?«, fragte er ungehalten.
»Ich bewache Ihren Schlaf, Genosse General!«, sagte der Milizionär und legte zackig die Hand an die Mütze. Das war zweifellos der beste Milizionär meines Lebens.
*
Mein Papa war niemals krank. In Stalins Sekretariat galt Kranksein als Verletzung der Parteidisziplin, und Papa war ein disziplinierter Kommunist.
»Ein disziplinierter Mensch«, sagte Molotow zu seinen Mitarbeitern, »erkältet sich niemals, weil er sich verantwortungsvoll kleidet und verhält. Er würde nicht am offenen Fenster sitzen oder ohne Mantel in der Kälte herumlaufen.«
Darum war ich sehr erstaunt, ihn eines Tages mit verbundener Hand zu sehen. Einer Antwort auf meine Frage wich er geschickt aus. Mein kindliches Paradies war eine aufgesetzte Konstruktion über der Erwachsenenhölle, in der die Ereignisse seltsame Wendungen nahmen.
»Einmal waren wir ziemlich früh mit der Arbeit fertig, so gegen ein Uhr nachts«, erzählt Vater. »Zufrieden fuhr ich nach Hause und stieg in die Badewanne. Meine Wonne war allerdings nicht von langer Dauer. Deine Mutter (als Mama mit mir schwanger war, aß sie viel Erbsensuppe – ich hasse Erbsensuppe bis heute, schon den Geruch) trommelte an die Tür und verkündete (die Verbindung dieser beiden sehr verschiedenen Verben vermittelt wie im Film die Familienatmosphäre jener Zeit, aber ich
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