Der gute Stalin
der Absicht, über den internen Bericht Chruschtschows Klarheit zu erhalten, empfinde ich bis heute als abstoßend. Entweder du bist Nietzsche oder du bist der Diener des Volkes – Europa gründet auf dieser Rollenverteilung.
Mir war Nietzsche ganz recht. Je mehr Vater an Stalin zweifelte, desto mehr begann er mich zu interessieren. Ich wollte nicht mit seinem Bild spielen, wie das die Sozartisten taten, aber in dem Moment der europäischen Kultur, wo der Künstler interessanter als seine Werke wurde, wo er sie gegen sich selbst austauschte, erwies sich Stalin als mächtiger Vorläufer dieser Wende. Das menschliche Material wurde zur Grundlage seiner Installation.
»Warum wurde ausgerechnet Molotow im Westen ›Mister Njet‹ genannt?«, versuchte ich meine eigenen Gedanken zu verscheuchen, die ich niemals mit ihm würde diskutieren können.
»Das war Teil eines großen Spiels«, lächelte Vater. »Verteilung der Rollen. Molotow führte als bad guy die Unterhandlungen mit den ›Westlern‹ bis zum Eklat. Die Rolle des ›Mister Njet‹ passte wie die Faust aufs Auge zu seinem Charakter. Er hatte nicht den kleinsten Funken Humor. Und dann tauchte good guy Stalin auf, und es wurde wieder gelächelt.«
Molotow war, so Vater, ein trockener, aufdringlicher, wenn auch gebildeter Mensch. Jedenfalls war er nach Shdanows Tod wohl das einzige Politbüromitglied, das mit Sicherheit sagen konnte, dass Balzac niemals einen Roman mit dem Titel Madame Bovary geschrieben hat. Er liebte lange Spaziergänge in der Natur, fuhr Schlittschuh, trank Narsan-Mineralwasser mit Zitrone und aß furchtbar gern Buchweizengrütze. Einmal brachte er Vater in Verlegenheit.
»Was wissen Sie über die positiven Eigenschaften von Buchweizengrütze? Finden Sie es heraus und tragen Sie es mir vor !«
Die Idee eines langen Lebens war für ihn wie für die meisten Kommunisten ein Ersatz für Unsterblichkeit. Privat äußerte Molotow nicht nur Interesse an Buchweizengrütze. 1947 wurde in der UdSSR eine Währungsreform durchgeführt. Ein halbes Jahr später, es war mitten in der Nacht, fragte er Vater:
»Haben Sie zufällig Geld bei sich?«
»Geld?«, fragte Vater verwundert und klopfte seine Taschen ab, um eilfertig seine Geldbörse hervorzuziehen.
Der stellvertretende Ministerpräsident betrachtete mit Interesse die Geldscheine seines Landes.
»Gutes Geld«, sagte er anerkennend.
*
Vaters langjährigen Beobachtungen zufolge hatte bei Stalin ausschließlich Molotow etwas zu sagen. Die Übrigen waren lediglich Ausführende. Zu zweit regierten sie die Sowjetunion. Bei ihnen oben liefen, wie sie es selbst ja wollten, alle Fragen des extrem zentralisierten Staates zusammen, von globalen Problemen bis hin zum Schnitt von Damenblusen und zu öffentlichen Toiletten in Moskau, für deren Fehlen Stalin auf dem Höhepunkt des großen Terrors Chruschtschow herunterputzte. Stalin fühlte sich sogar für die kleinen Bedürfnisse seiner Bürger verantwortlich.
Die Rolle der Institution der Referenten, die für eine Rede ihre kurzen Berichte vorbereiteten, welche jeweils zwölf bis fünfzehn markierte Dokumente umfassten: 1A (eilt sehr), 1 (eilt) und »Sonstiges«, war andererseits nicht hoch genug zu bewerten. Der »große Hausherr« Stalin und der einfache »Hausherr« Molotow schätzten bei ihren Referenten Initiative und ermunterten sie gar zu einer gewissen Freidenkerei (die ich bei Vater geliebt habe; auf der sowjetischen Datscha bei New York erlaubte er sich sogar, den sowjetischen Großinquisitor Wyschinski im Schach zu besiegen – der verzieh ihm das nicht und strich ihn alljährlich auf der Liste derjenigen Mitarbeiter des Außenministeriums, die ihre Wohnbedingungen verbessern wollten, woraufhin sich Vater schließlich an Molotow wandte, der gar nichts davon hielt, wenn man seine dienstliche Stellung benutzte, um ihn um Unterstützung zu bitten, trotzdem unterschrieb er Vaters Ansuchen; Jahre später trug Vater gern Wyschinskis Sarg auf seinen Schultern über den Pariser Flugplatz Bourget); die Obrigkeit ließ mit sich diskutieren, zumindest bis eine Entscheidung getroffen war. So lagen die Dinge im Fall des amerikanischen Marshall-Plans, als Molotow schon im Begriff war, ihn im Prinzip zu akzeptieren, Stalin jedoch den Mitstreiter barsch in seine Schranken wies.
1949 wurde Molotows Frau Polina Semjonowna Shemtschushina verhaftet und des Zionismus beschuldigt: Sie hätte vorgeschlagen, die Krim den Juden zu überlassen. War das nicht ein zu
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