Der gute Stalin
kam, um kurzatmig zu verkünden, dass Ehrenburgs Datscha (mit Kastanien im Hof) verkauft würde, lehnte Vater gleichmütig diesen Kadaver ab. Auf mich machte der Disput Molotow–Ehernburg weniger in inhaltlicher als in aufrührerischer Hinsicht Eindruck. Vater und Sohn wiederholten später immer wieder ein und denselben, aus der väterlichen Empörung heraus entstandenen Satz:
»Ein Schriftsteller hat es gewagt, dem zweiten Mann im Staate zu widersprechen!«
Der eine merklich gereizt; der andere insgeheim entzückt. Diese Episode war für mich ein Aufruf zum Widerstand.
*
Die Verhaftung von Molotows Ehefrau war nur Stalins erster Schlag gegen »Mister Njet«:
»Nach dem XIX. Parteitag im Oktober 1952 schwebte das Damoklesschwert über Molotow«, erzählt Vater. »Er saß an einem leeren Schreibtisch, las nur noch sowjetische Zeitungen und TASS -Meldungen. Anderes Material bekam er nicht mehr. Zu Stalin wurde er selten gerufen. In unserem Sekretariat nahmen die eifrigen Hausmeister des Außenministeriums bereits die teuren Lüster und Gardinen ab.«
Vater stand unter verstärkter Beobachtung des KGB . Eines Abends wurde er über den heißen Draht – das interne Regierungstelefon – von einer unbekannten Stimme grob abgekanzelt, dass er sich hinter dem Vorhang verstecke, wenn Genosse Stalin im Korridor vorbeigehe. Fantasien à la Hamlet. Ein Vorhang! Verfrühte Sozart. Ein anderes Mal, als wir gerade Urlaub im Süden machten, erhielt er ein Telegramm, umgehend nach Moskau zurückzukommen. In Vaters Arbeitszimmer hatte die Putzfrau, eine KGB -Agentin, eine Postkarte mit Stalins Jubiläumsporträt gefunden, gemalt von Picasso. Es lag als Lesezeichen in einem Buch. Berija hatte es als Karikatur aufgefasst. Die Untersuchung begann.
Stalins Tod im März 1953 hat Vater offensichtlich vor dem Gulag gerettet und mich vor dem Heim für Kinder von Volksfeinden. Zu Beginn des Sommers wurde Berija verhaftet. Nach seiner Verhaftung wurde in Molotows Kabinett ein spezieller Lautsprecher installiert, über den das »Theater am Mikrofon« übertragen wurde: »Das Verhör dieses Halunken«. Es war zu hören, wie er heulte und um sein Leben flehte. Molotow, der als Erster in der UdSSR die Tür zum Gulag einen Spalt öffnete, hatte von Berija bereits einige Stunden nach Stalins Ableben verlangt, seine Frau freizulassen. Nun lauschte er manchmal diesem Geheul, manchmal auch nicht. Allmählich gewöhnte man sich an Berijas Geschrei, dann hörte man nichts mehr: Er war erschossen worden.
Zwei Jahre später war Vaters Arbeit bei Molotow beendet. Wieder rettete ihn die rätselhafte Angina vor möglichen Unannehmlichkeiten, die mit dem zukünftigen Sturz Molotows (zusammen mit einer »parteifeindlichen Gruppierung«) im Jahre 1957 zu tun hatten:
»Es kann sein, dass die permanente nervliche Anspannung uns alle vor Krankheiten schützte, besonders während des Krieges. Als das Leben wieder seinen normalen Lauf zu nehmen begann, kehrten die Krankheiten zurück. Als Molotow von meiner Angina erfuhr, brachte er seinen Unmut zum Ausdruck. ›Dieser Jerofejew ist permanent krank‹, sagte er. Ich war empört: Zehn Jahre schonungslose Arbeit, und nun das! Wieder im Dienst, habe ich Molotow geradeheraus gesagt, dass ich nicht weiter bei ihm arbeiten wolle.«
*
Die Feiertage waren zu Ende. Der Junge klammerte sich krampfhaft an die Feuerleiter. Er hatte Angst, weiter nach oben zu klettern. Nach unten war auch nicht besser, da erwarteten ihn Steine.
Ein Drittklässler stand unten und schleuderte Steine nach ihm. Einer traf ihn am Rücken, der zweite an der Schulter und der dritte schließlich am Hinterkopf. Er tat einen schwachen Aufschrei und flog rücklings hinunter. Der Schuldirektor führte die Schule als erfahrener Kapitän durch die neuen Leiden der Koedukation. Isja Moissejewitsch, der Literaturlehrer, teilte Soja Nikolajewna seine Ansichten über das gerade erschienene Buch von Ilja Ehrenburg mit. Soja Nikolajewna unterrichtete in den ersten Klassen. Sie war jung und genierte sich immerzu. Einmal war der Direktor ganz nah an sie herangetreten und hatte sie durchs Kleid in den Bauch gezwickt. Der Direktor hatte schwarzes Haar und ein noch junges Gesicht. Soja Nikolajewna wusste nicht, wie sie sich dazu stellen sollte. Denn er hatte sie nicht gemein, sondern eher scherzhaft gezwickt. Sie lächelte ihn an. Er machte eine Faust und sagte: »Sie sind hier drin, in meiner Hand.« Sie schlug die Augen nieder. Da sagte der Direktor:
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