Der gute Stalin
übrigens untergrub den Glauben meiner Mutter an den internen Bericht von Chruschtschow – sie fand diese Worte allzu rachsüchtig. Vater lachte. Auf dem Höhepunkt der Berlin-Krise Anfang August 1948 war er bei Stalins Unterredung mit den Botschaftern der drei Westmächte dabei gewesen. Die Welt, schrieben die Zeitungen, stand am Rande eines Krieges.
Stalin hielt sich ruhig, paffte seine Lieblingspapirossy, »Herzegowina Flor«. Er rauchte nicht auf Lunge, weshalb sie oft ausgingen. Papiere hatte er keine vor sich, Notizen machte er nicht. Das Gespräch drehte sich um das Recht der Alliierten, Truppen in Berlin zu stationieren. Der amerikanische Botschafter Bedell Smith baute als General und ehemaliger Stabschef Eisenhowers seine Argumentation auf militärischen Beweisgründen auf. Die Sowjetunion, argumentierte er, bricht mit den Schwierigkeiten, die sie den Westmächten in Berlin macht, das Abkommen der Alliierten. Die Kommandantur der USA habe seinerzeit nichts dagegen eingewendet, dass die sowjetischen Streitkräfte als Erste Berlin besetzten.
»Sie konnten damals gar nicht früher in Berlin einmarschieren, Sie haben es nicht geschafft«, parierte Stalin ruhig.
Vater schlug vor Stolz auf sein Land sogar die Beine übereinander, überlegte es sich jedoch schnell anders, setzte sich wieder bescheiden hin und lauschte der leisen Stimme. Er war Zeuge, wie Stalin aus dem Gedächtnis die Berlin-Operation Tag für Tag rekonstruierte. Zur selben Zeit, als Teile der Ersten Weißrussischen Front unter Marschall Shukow und der Ersten Ukrainischen Front unter Marschall Konew ihre Positionen 60 – 80 Kilometer vor Berlin gefestigt hatten, war die amerikanische Armee unter General Patton im Westen noch 320 – 350 Kilometer von Berlin entfernt. Die Rote Armee durchbrach die massive Verteidigungslinie des Feindes bei Seelow und ging am fünften Tag der Operation zum Sturm auf Berlin über. Schon am folgenden Tag begannen die Straßenkämpfe. Die Ohren des amerikanischen Botschafters brannten.
»Das sind die Tatsachen«, schloss Stalin. »Wenn Sie mir nicht glauben, gehen wir in unser Archiv, ich zeige Ihnen die Generalstabskarten dieser Tage.«
»Nein«, antwortete der amerikanische Botschafter verlegen. »Ich glaube Ihnen, Mister Generalissimus. Danke.«
Der hagere Bedell Smith war besiegt. Stalin baute seinen Sieg weiter aus. Nun trat er als konsequenter Verteidiger eines ungeteilten Deutschlands auf.
»Die Posten um Berlin ziehen wir ab. Das ist eine technische Frage. Und Sie verzichten auf die Teilung Deutschlands.«
Die Botschafter (bemerkte Vater spöttisch) sträubten sich höflich, aber mit aller Kraft.
»Eine Neutralisierung Deutschlands«, platzte ich heraus, »hätte doch für den Westen eine totale Katastrophe bedeutet!«
Meine Aggressivität ließ ihn vorsichtig werden. Ich biss mir auf die Zunge.
»Das schon«, stimmte Vater nachdenklich zu, als betrachte er eine Schachstellung. »Aber Stalin hat sich trotzdem geirrt.«
»Wieso?«
»Stalin hat de Gaulle und seine Ideen eines großen Frankreichs unterstützt. Er wusste, dass de Gaulle die Amerikaner nicht ausstehen konnte. Man hätte ein engeres Bündnis mit Frankreich eingehen müssen. De Gaulle wollte das Rheingebiet. ›Wenn Frankreich es bekommen hätte, wäre Adenauer mein erbitterter Feind geworden‹, hat de Gaulle seinerzeit zu mir gesagt.«
Diese hyperstalinistische Kritik an Stalin im Hinblick darauf, dass das apokalyptische, tödlich verwundete Biest des Kapitalismus sich auf die Britischen Inseln zurückziehen würde, erschien mir umso interessanter, als Vater in den neunziger Jahren, im Unterschied zu vielen anderen Veteranen des sowjetischen diplomatischen Dienstes, einschließlich des verstorbenen Herrn mit der Ordensspange, bezüglich Russlands eine antikommunistische Wahl traf.
»De Gaulle hat trotz allem Stalin hoch geschätzt«, fügte Vater hinzu. » 1956 waren Botschafter Winogradow und ich bei ihm zu Gast, und die Rede kam auf die Repressionen. Er sagte: ›Der kleine Mann macht kleine Fehler, der große Mann macht große Fehler.‹«
Ich hatte eine Halluzination von Vaters fragmentarischer Sichtweise. Vater war nicht reif, die Ereignisse gleichzeitig von innen und aus der Ferne zu betrachten, die neuen Kenntnisse liefen noch nicht synchron – übrigens gestand er mir das ganz aufrichtig. Aber die Taktik de Gaulles, der die russischen Diplomaten unter dem Vorwand, sie wegen seiner Memoiren zu konsultieren, provozierte, mit
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