Der gute Stalin
Gewohnheit bei, dünnen Tee zu trinken. Und so hat Großmutter auch nie verlernt, am Tee zu sparen: Ich erinnere mich, zu Hause gab es ein mikroskopisch winziges Löffelchen, das einzig zum Teemachen diente.
»Warst du es nicht, der mir von seinen ›gelben, mächtigen Augen‹ erzählt hat?«, frage ich.
»Er hatte einen schrecklichen Blick«, stimmt Vater geduldig zu. »Er wusste das und hat gewöhnlich seine Augen versteckt. Für die gerechte Sache konnte er jeden umbringen. Seine Repressionen basierten auf dem Glauben. Er hat es vermocht, den Kommunismus im Bewusstsein unseres Volkes einzupflanzen.
Ein kluger Mann. Nehmen wir nur den Pakt mit Hitler. Kein anderer führender Politiker in der Sowjetunion hätte einen so richtigen Zug machen können. Wir haben Hitler in den Krieg gegen den Westen getrieben.«
*
Leb wohl, Chagall! Ich bemerke an mir eine interessante Besonderheit: Ich fühle mich angezogen vom sozialistischen Realismus, ich finde seinen Stil aufregend. So ähnlich, wie eine schwangere Frau Lust auf »irgendwas Saures« hat. Das heißt, ich spüre ein physiologisches Bedürfnis, ohne irgendwelche politischen Beweggründe zu haben. Die Konzeption meiner imaginären Ausstellung im Rahmen dieses Buches besteht aus der Konfrontation von Sozrealismus und dessen Verspotter, der Sozart, die in den letzten Jahren des Sozrealismus als Vorbotin seines nahenden Endes auf den Plan trat. Sozart umfasste sowohl Angst als auch Humor, Bitterkeit und Vergeltung. Doch dieses dissidentische Unterfangen zur Vernichtung des Sozrealismus erwies sich nach einer gewissen Zeit als relativ belanglos. Bei aller Bedeutung solcher Künstler wie Kabakow oder Bulatow, die in der Sozart eine metaphysische Ader fanden, bei allem Scharfsinn von Komar und Melamid, die mit falscher Ehrerbietung das Stalinbild bearbeiteten, wird klar, dass der Sozialistische Realismus selbst ein echtes nationales Drama war: das Durchleiden der Utopie als Lebensentwurf.
Russland ist ein Gefangener billiger Paradoxa. Die Achmatowa schrieb, dass Gedichte aus Kehricht entstünden. Dieser Satz betäubte die Intelligenzija mit seiner Offenbarung. Und meiner Meinung nach war jene magere Katze, die nach dem Luftangriff zu dem Mitarbeiter der sowjetischen Botschaft in London zurückkehrte, als dies schon niemand mehr erwartete, eine Metapher für ein Schöpfertum, das sich mehr und mehr seines Namens schämt.
Es verblüfft nicht der Konformismus von Brodski, Gerassimow, Jablonski, Laktionow, der in mir Mitleid gegenüber der ursprünglichen Schwäche des Künstlers hervorruft, sondern der russische Traum einer idealen Verwandtschaft von Volk und Staat. Dieser Traum rutschte mit Shakespearescher political correctness auf Stalin aus. Die russische Avantgarde arbeitete ebenfalls mit der Utopie, und die Präsenz von Malewitschs schwarzem Quadrat in diesem Buch (suchen Sie es!) ist auch nicht zufällig. Mehr noch, Petrow-Wodkin mit seinem roten Pferd, die kubistischen Plakate der zwanziger Jahre zum Ruhme des Komsomol, die jugendliche Eckigkeit meiner nicht weniger kubistischen Eltern, die zweifelhaften Filonowschen Fantastereien und schließlich unsere gemeinsame (Papas, Mamas und meine) schlechte Haltung, die uns in die Körperstellung eines kosmischen Embryos versetzt, all das spricht von der unmittelbaren Verbindung beider Utopien. Etwas anderes ist, dass die avantgardistische Utopie sich in den Kern der Dinge hineinfressen, ihm das Hirn heraussaugen wollte, während die naive Alleinigkeit des Sozialistischen Realismus die nationale Mystik bildet, die sich nicht auf Kommando der Politiker auf den Leinwänden niederließ, sondern vom russischen Gott selbst bestellt war. Einige Bilder sind bestechend in ihrem Irrsinn. Auf dem Bild An Lenins Sarg , von Brodski auf frischer Fährte gemalt, sehen wir den Trauersaal, der einem tropischen Wald ähnelt: Er ist voll von hohen Palmen mit großen gefiederten Blättern. Lenins Tod verwandelt sich in die Beerdigungszeremonie für einen afrikanischen Stammeshäuptling – der Russische Staat, der bessere Zeiten kannte, ist auf die zweidimensionalen Politbüromitglieder und das Götzenbild Krupskaja geschrumpft. Ein anderes Mal steht Stalin an Shdanows Sarg. Wieder unterstreichen Palmen die Feierlichkeit, den Verstoß gegen die Disziplin und die Unsterblichkeit des kommunistischen Todes. Shdanow, ein Spielzeug des Maskenbildners, ist so lebendig im Sarg – schöner geht es gar nicht. Und dann finde ich die Rechtfertigung
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