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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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für Vaters Altersgefühllosigkeit. Auf dem Staatsbegräbnis für den kürzlich verstorbenen Freund, den Botschafter und Tennisspieler, fragt er mich:
    »Ein betrübliches Ereignis natürlich, aber ist es für dich nicht interessant?«
    En effet . Vater hat die klassische Sprache der Diplomatie erlernt – Französisch. Aber es gibt nicht nur Diplomatenempfänge, sondern auch Diplomatenbegräbnisse. An den Verstorbenen gewandt, der auf russische Art im offenen Sarg lag, jedoch mit einer gewissen natürlichen Eleganz und herrschaftlichen Attitüde, die nicht einmal der Tod zu korrigieren vermochte, sagte der Botschafter eines fernöstlichen Inselstaates in Anwesenheit des russischen Außenministers:
    »Verehrter Herr Außerordentlicher und Bevollmächtigter Botschafter, Ihre Bemühungen um die Festigung der Beziehungen zwischen unseren Staaten muss man als Heldentat bezeichnen.«
    Ich hatte nicht geglaubt, dass der Verstorbene, dem man sogar die Ordensspange an sein Jackett geheftet hatte (darunter auch zwei Lenin-Orden), weiterhin den Titel Botschafter behalten würde. Doch als die Telegramme des Präsidenten der Russischen Föderation und des UNO -Generalsekretärs verlesen wurden, begriff ich, dass Kreuz, Priesterrock und Gebet in diesem Fall nicht aktuell waren. Für eine Sekunde besiegte die Diplomatie den Tod.
    Die Sozrealisten durchschauten die russische Seele, ihren unerschöpflichen Vorrat an Begeisterungsfähigkeit, mit dem man vierzigmal den Erdball umkreisen kann. Auf einem Bild des frühen Laktionow präsentieren junge sowjetische Panzersoldaten ihrem heldenhaften Hauptmann mit solchem Stolz ihre Wandzeitung, dass es scheint: Das ist der pure Hohn. Erschießen? Belohnen? Der Maler ist bemerkenswert talentiert. Hinter seinen Fenstern florentinische Landschaften. Nicht schlechter als Dejneka, der vom Sozrealismus in die Avantgarde marschierte. Aber der russische Gott warf schließlich die Maske ab.
    Nach der Utopie, im Jahre 1954 , malt Plastow sein Bild Frühling . Eine nackte Frau mit rosa Brustwarzen und rasanten Schenkeln, zwischen denen der Geruch einer mit besonderem russischen Eifer soeben in der Banja gewaschenen Vagina schwebt, hockt im Frühlingsschnee vor einem Kind – das ist etwas anderes als das Ehrenburgsche Tauwetter. Das ist die Rückkehr nach Hause, zu familiären Werten, zum Privatleben, von dem aus man jetzt durch ein kleines Fenster sehen kann, was das ist, tödlich zu träumen.
    *
    1944 aus Stockholm abberufen, um als Referent Molotows zu arbeiten, wurde Vater Augenzeuge und Begleiter der Kriegspolitik der UdSSR . Unter seiner Beteiligung wurden viele Schreiben an Roosevelt und Churchill entworfen.
    »Stalin führte den Krieg im Hinblick auf eine Verbreitung der revolutionären Idee in Europa. In einer Unterredung mit Maurice Thorez, die ich gedolmetscht habe, sagte er, dass wir, wenn es keine zweite Front gegeben hätte, noch weiter gegangen wären und die französischen Kommunisten in ihrem Land die nötigen Veränderungen durchgeführt hätten.«
    Noch vor Churchills Rede in Fulton hatte Stalin, wie Vater sagte, »auf den dritten Weltkrieg gesetzt. Er dachte in weltumspannenden Kategorien. Im Unterschied zu Hitler dachte Stalin auch an einen Sieg über die USA . Er wollte alles. Er war konsequent auf die Weltrevolution orientiert, auf die Errichtung seiner Herrschaft über die ganze Welt.«
    »Auch ich habe auf lange Sicht die Weltrevolution für möglich gehalten«, fügte Vater hinzu.
    »Also haben wir den Kalten Krieg angezettelt?«, fragte ich und ertappte mich beim anpasslerischen Gebrauch des Wortes »wir« statt meines gewohnten, liberal-intelligenzlerischen »sie« für die Sowjetmacht.
    Vater nickte nicht sofort.
    »Hast du Stalin geliebt?«
    Diese Frage hat Vater zu verschiedenen Zeiten verschieden beantwortet. Zuerst bejahend, dann tat er sich zunehmend schwer. Aber er antwortete niemals mit einem klaren Nein. Er sah Stalin als »magnetische« Persönlichkeit von weltweiter Bedeutung:
    »Als ich ihn das erste Mal sah, war ich sprachlos. Das erdig dunkle, fahle Gesicht war pockennarbig. Die linke Hand hing bewegungslos herab. Er hob sie mit der anderen Hand hoch und steckte sie in die Tasche. Aber sogar wenn ich mit dem Rücken zur Tür saß, spürte ich, wenn Stalin sein Arbeitszimmer betrat. Stalin füllte den Raum aus, er verdrängte alles Übrige.«
    Ich erinnerte ihn an Chruschtschows Worte, Stalin habe rund um den Globus den Krieg gelenkt. Genau dieser Globus

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