Der gute Stalin
einem Relikt der NÖP -Zeit, der Schneiderin Polina Nikandrowna, erscheinen sie besonders bunt, wie die Felder bei Paris, über die ich laufe und mit Mama und unserem neuen Dienstmädchen Klawa (Marussja Puschkina ließ man nicht mit uns nach Paris fahren, da sie als kleines Kind eine gewisse Zeit unter deutscher Besatzung bei Wolokolamsk gelebt hatte) roten, innen pechschwarzen Mohn pflücke. Mohnblumen pflücken wir besonders gern. Wir verlangen von Vater, dass er am Straßengraben anhält: Er fährt einen tollen grauen Peugeot 403 mit gelben Scheinwerfern, zwinkernden Blinkern (manche Pariser Autos hatten zu der Zeit noch Blinker, die beim Abbiegen wie ein gebrochener Flügel herausschnellten) und einem grünen Diplomatenkennzeichen mit roten Buchstaben und Ziffern, das die Neugier der damals noch sehr neugierigen Franzosen hervorruft und uns sogar in Paris zu etwas Besonderem macht. Diese Autonummer bietet göttliche Möglichkeiten. Man kann das Auto auch quer auf die Straße stellen, und der Polizist spricht trotzdem mit einem wie mit einem König. Im extremsten Fall kann man mit so einer Autonummer jemanden an-, um- oder gar totfahren – halb so schlimm, man landet nicht im Gefängnis, wird bloß nach Moskau zurückgeschickt. Solche Möglichkeiten bespreche ich mit den anderen sowjetischen Jungen im gepflasterten Hof der Botschaft, und mir dreht sich der Kopf bei der Vorstellung, wie stark und immun gegen jede Bestrafung mein Vater ist, wovon er offenbar gar keine Ahnung hat. Einstweilen springen wir über den Straßengraben und pflücken am Hang Mohnblumen.
Papa zieht modische weite, fließende Hosen an. Das Hemd mit den kurzen Ärmeln und dem offenen Kragen trägt er in der Freizeit auf französische Art über der Hose. Auch er legt sich eine andere Frisur zu, das Haar nach hinten und vor allem zur Seite gekämmt wie ein französischer Künstler. Er hat sich auch schon eine große dunkle Brille gekauft, und Mama hat jetzt ebenfalls eine Sonnenbrille: gestylt, etwas spitzohrig, mit Perlmutteinlage, aber nicht allzu ausgefallen. Meine Eltern tauschen einmütig die Uhren an ihren Handgelenken gegen neue aus, Mamas Uhr ist winzig und länglich.
In Frankreich begann Mutter anders zu riechen als in Moskau. Wenn sie zu mir kam, um mir gute Nacht zu sagen, rochen ihre Hände und auch die Haut ihres Gesichts anders. In den neuen Gerüchen äußerte sich eine subtile, unrussische Entfremdung. Mama wurde weniger schwerfällig, ihrer Mutter weniger ähnlich, sie hielt sich weniger krumm, nahm deutlich ab, ihr Gang änderte sich – überhaupt war sie beweglicher und leichter, und sie ließ mich schneller allein. Wenn sie sich zur Nacht von mir verabschiedete, blieb sie nicht lange sitzen, sondern tätschelte mir tröstend die Hand, beendete das lang erwartete abendliche Gespräch – na, dann schlaf mal schön – und erhob sich leicht von dem Sofa, auf dem ich im großen Zimmer schlief.
Dies war ihr erster langer Auslandsaufenthalt. Japan zählte nicht. Nach Japan war sie über den Aufklärungsdienst als kleine Spionin gekommen, die im Büro des Militärattachés arbeitete und aus japanischen Zeitungen die für den Geheimdienst interessanten Informationen heraussuchte. Als beharrliche junge Frau lernte sie so gut Japanisch, dass sie als Erste unter allen sowjetischen Menschen von der Hinrichtung Richard Sorges erfuhr (sie las das auf Japanisch im Parlamentsboten ). Sie wusste noch nicht, wer das war, doch nach dem Aufruhr unter den russischen Militärs in der Botschaft zu urteilen, musste etwas Schwerwiegendes passiert sein. Gegenüber der sowjetischen Botschaft war auf Japanisch zu lesen: »Alle Ausländer sind Spione«. Mama empörte sich über diese Taktlosigkeit. Ebenso empört war sie über die Taktlosigkeit der japanischen Männer, die nach dem Dampfbad im offenen Kimono durch Tokyo liefen und ihre Geschlechtsteile zur Schau stellten, während ihre Frauen kaum mit ihnen Schritt halten konnten.
Später in Moskau nahm sie an Verhören eines deutsch-russischen Ehepaars teil, Kollegen von Sorge, die nach Kriegsende aus japanischer Haft in die UdSSR gebracht worden waren. Die Russin hatte im japanischen Gefängnis geredet, und nun erwartete das Paar ein hartes Urteil. Man kann sich vorstellen, mit welchen Augen sie meine zukünftige Mutter betrachteten, die als Mitarbeiterin des GRU ihre Aussagen mitschrieb. Doch dann schob man die beiden still und leise nach Ostdeutschland ab, wo sie viele Jahre später als
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