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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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ihr wie eine beschämende Krankheit. Sie wusste nicht, dass ich 1979 , gone with the wind in den Samisdat, ohne es zu wollen, meinen Vater politisch ermordet hatte (Freudianer werden hier vermutlich aufhorchen).
    Doch eine gute Neuigkeit gibt es zu vermelden: Das Gewissen existiert. In Russland muss man lange leben, um irgendetwas noch zu erleben. Aber das Gewissen liegt im Tiefschlaf. Negretos Hypnos ist sein Gott und Kommandeur. Es träumt irgendetwas. Fortsetzung folgt. Und was ist denn Russland, wenn nicht Träume des Gewissens?

3
    Mein erster Brief aus Paris an Großmutter, abgeschickt mit Diplomatenpost:
    Paris, 13 . September 1955
    Liebe Großmutter, ich grüße Dich!
    In Paris gibt es viele Autos, aber überhaupt keinen schwarzen Kaviar. Ich habe große Sehnsucht nach Dich (sic!). Bei uns ist so weit alles in Ordnung. Am Montag hat Papa mir einen tschechoslowakischen Tennisschläger gekauft. Heute haben Papa und ich Tennis gespielt. Ich kann schon ein bisschen. Manchmal mache ich Aufgaben. Unsere Schule liegt beim Bois de Boulogne. In unserer Klasse sind wenig Schüler. Meine Lehrerin heißt Kira Wassiljewna.
    Wie ist das Wetter in Moskau? Das Wetter in Paris ist mittelmäßig. Aber es regnet sehr selten. Schreib mir bitte einen Brief.
    Ich küsse Dich ganz ganz fest,
    Dein Enkel Viktor
    *
    Der Bois de Boulogne ist kein Wald. Die Champs-Élysées sind keine Felder. Ende August reisten wir mit der Bahn – mit Umsteigen in Prag – nach Paris. An der Gare du Nord wurden wir von Botschaftsrat Anikin abgeholt. Ungläubig musterte er Mama, die ein elegantes schwarzes Kleid mit weißen Streifen trug, und entsetzt starrte er auf ihre Sandalen ohne Absatz. Zusammen mit unseren Koffern wurden wir in ein Auto verfrachtet und durch die Stadt zur Botschaft gefahren.
    Paris empfing uns mit tropischer Hitze. Mama wunderte sich die ganze Zeit: »Die Leute laufen ja herum wie am Strand, in Shorts!« Im Wagen herrschte gehobene Stimmung, warum, weiß ich nicht. Wir waren alle nass geschwitzt. Die Kleidung klebte am Körper. Als Äffchen war auch ich gehobener Stimmung. Wir fuhren, wie man sich denken kann, über die Place de la Concorde, und Mama drehte meinen Kopf nach rechts:
    »Siehst du, das sind die Champs-Élysées.«
    Über sie gebeugt, klebte ich am Fenster. Vor mir eine leicht ansteigende breite Straße mit Autos und Bäumen an den Seiten, die in der Ferne mit einem kleinen Torbogen endete.
    »Wo?«, fragte ich.
    »Da, vor deiner Nase!«
    Ich betrachtete aus aller Kraft die Straße, den Torbogen, ich wollte unbedingt die Champs, diese Felder, sehen, aber ich sah nichts, was meine Mutter mehr und mehr verwirrte. Ich sah nur hellgrauen Dunst am Rande des sonnigen Wetters. Wo? Wo?
    »Dreh doch nicht den Kopf hin und her!«
    »Tu ich doch gar nicht.«
    »Na, siehst du sie?«
    »Ja!«
    Mein Paris begann mit einer Lüge. Mama ließ erleichtert von mir ab. Ich dachte, dass wahrscheinlich hinter jenem Torbogen die Felder begannen, die ich nicht zu sehen bekommen hatte, weil die Straße anstieg. Wie hatte Mama sie denn ausmachen können? Papa, der, glaube ich, einen Hut trug, freute sich ebenfalls über mein »ja«, denn der Hut auf dem Beifahrersitz nickte. Besorgt fragte Papa Anikin:
    »Wie stehen sie zu uns?«
    (Ich hätte immer gern ehrlich geantwortet: beschissen. Beschissen in Japan und der Ukraine, beschissen in Polen, Frankreich, Finnland, Ungarn, den USA . Nur in Serbien nicht beschissen.)
    Diese Frage wurde zu einer Tradition; woher ich später auch immer zurückkam, Papa fragte mich jedes Mal mit unverfälschter Besorgnis:
    »Wie stehen sie zu uns?«
    »Das lässt sich nicht mit zwei Worten sagen«, lächelte der Diplomat.
    Die Champs-Élysées. In meinem Kopf jedoch breiteten sich Kartoffelfelder aus, ein grenzenloser violetter Raum von Kartoffelblüten, der eine ungeheure Bedeutung für das Land hatte, in dem wir soeben angekommen waren, womöglich bildete er das Zentrum der französischen Welt, die vom Kartoffelverkauf lebte und sehr stolz darauf war. Ich sah Hunderte von französischen Feldarbeitern mit Hacken, Spaten und Harken die Straße hinauf- und an dem Torbogen vorbeigehen, um sich sofort der Feldarbeit zu widmen. Diese Vision überkommt mich bis heute, wenn ich über die Champs-Élysées gehe und denke, dass dort hinter dem Torbogen vielleicht wirklich Kartoffelfelder liegen. Vor lauter Angst, begriffsstutzig zu erscheinen, verschreckt durch Mamas ewige Sorge, aus mir könnte ein Einfaltspinsel

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