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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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nicht in russische Kneipen – erst in Frankreich entdeckten sie, dass es so etwas wie Restaurants auf der Welt gibt.
    *
    Paris besteht aus Essen. Es riecht durch und durch nach Essen. Die Franzosen tun nichts anderes, als zu essen. Sie sitzen auf der Straße und essen. Sie gehen – und essen. Sie liegen – und essen. In unseren Alltag dringt unmerklich französisches Essen ein. Mit dem Essen ist es schwieriger als mit der Kleidung. Was das Essen betrifft, so ist Papa extrem konservativ. Für ihn sind bis heute Pelmeni der kosmische Saturn seiner Wünsche. Und so kreisen sie wie Saturne durch meine ganze Kindheit – die Pelmeni, Papas rituelles Geburtstagsessen am 9 . Oktober, das Klawa zubereitet. Sie war von Kindheit an eine wahre russische Heilige, ein unsichtbares Wesen, das außerhalb aller politischen Systeme existierte, ein selbstloser und unserer Familie treu ergebener Mensch mit erstaunlichen kulinarischen Fähigkeiten. Klawas Pelmeni, hauchdünn wie Spitzen, waren klein und lauter Einzelstücke. Die Teigscheiben stach sie mit einem Wodkagläschen aus und legte die behutsam geformten Pelmeni auf ein reichlich mit Mehl bestäubtes Holzbrett, damit sie nicht zusammenklebten. Die Pelmeni wurden in einem großen Topf gekocht, und wenn sie langsam an die Oberfläche stiegen, nahte der heilige Moment des Kostens. Klawa brachte einen einzigen Pelmen, den sie mit einem speziellen Löffel mit kleinen Löchern aus dem Topf gefischt hatte, zum Probieren an den Tisch. Papa tat etwas Butter darauf, pustete, um sich nicht zu verbrennen, und steckte den Pelmen in den Mund.
    »Na, und?«, fragte Klawa aufgeregt.
    »Fertig«, sagte Vater schmatzend.
    In dieselben Gläser, die an der Herstellung der Pelmeni beteiligt waren, wurde Wodka eingeschenkt. Zu Pelmeni floss der Wodka ausnahmsweise in Strömen, aber niemand wurde betrunken. Die Kombination von Pelmeni und Wodka garantierte den Triumph des russischen Geistes, vergleichbar etwa mit der Katjuscha oder Ballett im Bolschoi-Theater. Wodka begann ich später in Moskau zu trinken, zu Pelmeni und mit familiärem Segen. Vater und ich haben zum Abendessen gemeinsam an die hundert Stück vertilgt. Die Pelmeni gehörten zur platonowschen Idee der familiären Ewigkeit: Es war kaum vorstellbar, dass es mit Klawas Handarbeit irgendwann vorbei sein könnte. Die Pelmeni waren die Garantie dafür, dass in unserer Familie niemand alterte und noch weniger jemand starb. Niemand wagte es, sie familiär »Pelmeschki« zu nennen. Mama mochte keine Pelmeni. Nach dem Pelmeni-Essen mussten wir lange verschnaufen und tranken Tee mit Zitrone. An einen Nachtisch war gar nicht zu denken, der Zitronenkuchen allerdings, dessen Rezept Mama fürs ganze Leben aus Paris mitgebracht hatte, bildete die einzige Ausnahme von der Regel.
    Einen ebensolchen Moskauer Atavismus wie die Pelmeni bildeten auch die in Pariser Geschäften gekauften Würstchen, obwohl sie keine rituelle Bedeutung hatten – nur waren sie hier weniger lecker im Vergleich zu den hellen mikojanschen Kreml-Würstchen, dafür würziger und verdächtig rötlich wie die Franzosen selbst.
    Die grundlegende Wandlung begann mit dem Wein. Ohne es zu merken, fielen meine Eltern förmlich in die vorrevolutionäre Zeit zurück und strebten zugleich in die höhere Gesellschaft empor: Sie lernten französische Weine schätzen, die in der Folge zum Eichmaß in unserer Familie wurden. Vater versorgte uns in den »Nicolas«-Geschäften mit trockenem Wein, der im Moskau der fünfziger Jahre als Häresie, saures Zeug und ungenießbar galt. Der Weg von süßem Krim-Portwein, Madeira und Sherry zu Bordeaux und Burgunder bedeutete eine entscheidende Aufgabe sowjetischer Positionen. Sonntags bekam auch ich von meinen neu bekehrten Eltern Wein, zunächst aber mit Wasser verdünnt. Das war eine Art Eucharistie. Zum Wein gesellten sich französische Weichkäse. Zuerst die zurückhaltenden, wenig stinkenden wie Camembert und Caprice des Dieux. Im Unterschied zu den gelben Moskauer Käsesorten konnte man diese entgegen allen Regeln mit Rinde essen. Dann gelangten auf unseren Tisch Sorten mit immer aggressiverer Duftnote, die die Russen abschreckten und im Kühlschrank unerträglich stanken, wie etwa Pont-l’Évêque.
    Der bei uns entbrennende Krieg der zwei mächtigen gastronomischen Systeme bestand aus Angriff, Verteidigung und Gegenangriff. In der Küche werden blutige Steaks gebraten. Zusammen mit Rotwein verdrängen sie Klawas Frikadellen. Der Fleischwolf

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