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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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Erfahrung war nicht umsonst. Irgendwann kann die Menschheit in neuer Form und auf einem höheren moralischen Niveau dahin (zur kommunistischen Sache) zurückkehren.«
    Einmal, es war noch zur Stalin-Zeit, bekam meine Großmutter im GUM zu wenig Wechselgeld heraus. Sie wunderte sich:
    »Was erlauben Sie sich eigentlich, wo doch mein Sohn im Kreml arbeitet!«
    Die Kassiererin war drauf und dran, ihr den gesamten Tageserlös herauszugeben.
    *
    In Anlehnung an das bekannte Spielzeug könnte man Steh-auf-Stalin sagen. Stalin ist der Schöpfer des magischen Totalitarismus. Die Russen lieben Rätsel. Stalin hat ihnen ein Rätsel aufgegeben. Stalin ist vollkommen hermetisch, dicht wie ein Unterseeboot. Das ist unser gelbes Unterseeboot. Er hat nie gesagt, was er in Wirklichkeit will. Er hat alle ausgelacht und ist unerkannt gestorben.
    Endlose liberale Bücher über Stalin zeichnen ihn als Tyrannen. Es war indessen der Westen, der der russischen Revolution geholfen hat, auf die Beine zu kommen und stark zu werden, den Sieg im Bürgerkrieg davonzutragen, die russische Emigration zu zersplittern und Stalin und Hitler zu Verbündeten zu machen, und hinterher hat er sich nicht gescheut, fast alle russischen Flüchtlinge an Stalin auszuliefern. Wir existieren im freien Raum, jeder moralischen Kritik des Westens enthoben. Wir müssen uns selbst in unseren eigenen Kategorien begreifen. Wir sind in Welten geflogen, in denen noch niemand je gewesen ist. Das sind unmenschliche Dimensionen. Das ist die Gleichheit vollkommen gegensätzlicher Dinge. Unsere Rückkehr ins System normaler Werte ist praktisch irreal. Wir imitieren nur den gesunden Menschenverstand.
    Ich wuchs auf und verstand: Für den Westen und die Mehrheit der russischen Intelligenzija war Stalin eines und für viele Millionen Russen etwas anderes. Sie glauben nicht an einen schlechten Stalin. Sie können nicht glauben, dass Stalin jemanden gefoltert und gequält hat. Das Volk hat sich das Bild vom guten Stalin, dem Retter Russlands und Vater einer großen Nation, als stille Reserve bewahrt. Mein Vater stand Schulter an Schulter mit meinem Volk. Beleidigt Stalin nicht!
    Ich habe keinen anderen Taiga-Napoleon, keine anderen Kommunisten und keine andere Großmutter und werde so bald auch keine anderen haben.
    Ich hole aus der Familienschatulle all die verschiedenen Figuren mit ihren ovalen staatlichen Schildchen heraus. Das Schildchen bedeutet kosmische Inventur und Kontrolle. Solipsismus ist die Abwesenheit kindlicher Verletzungen. Aus purem Zufall habe ich mich in ein einziges Maß der Dinge verwandelt. Hier kommt Stalin, nach ihm Molotow, Berija, Mikojan, andere Politbüromitglieder sowie berühmte Ausländer: De Gaulle lächelt mir zu, Ribbentrop und Maurice Thorez, für mich tanzt der Tanzlehrer Enver Hoxha.
    Entsprechend ihren Doktrinen oder auch deren ungeachtet, existieren sie ausschließlich zu meinem Vergnügen. Wenn man genau hinsieht, sind sie mein Produkt, und darum sind sie ganz und gar künstlich. (Wie jener Inder am Flughafen in Varanasi, mit einem Schnurrbart, breiter als sein pockennarbiges Gesicht, und einem vorsintflutlichen Karabiner in den Händen, der eine drohende Geste machte, als ich aus Versehen gesperrtes Terrain – irgendeinen schmierigen Drecksboden – betrat, das von einem Bambuszaun umgeben war. Ich sah ihn an und konnte nicht glauben, dass er imstande wäre, mir irgendeinen realen Schaden zuzufügen.)
    All das endete nicht korrekt. Ich vermutete solipsistische Rituale. Ich verneigte mich vor solipsistischen Idolen. Ich nahm mir fest vor, meinen Vater in seinen Lieblingsspielen nicht zu besiegen, besonders im Tennis – es half nichts. Die Zerbrechlichkeit des Daseins wird uns anschaulich vor Augen geführt am Beispiel meiner Familie. Die Schale ist zerbrochen. Der Inder trat aus der Klammer heraus und schoss – der Mistkerl! – in die heiße Luft. Die Schildchen flatterten zu Boden. Sogar Großmutter meuterte gegen die ihr von mir zugewiesene Rolle. Ihr war ein längeres Leben beschieden als der UdSSR , und vor ihrem Tode gestand mir Anastassija Nikandrowna, sie habe Lenin immer für einen »schlechten Menschen« gehalten.
    »Warum hast du mir das nicht früher gesagt?«, fragte ich.
    »Ich wollte dir nicht dein Leben verderben«, antwortete Großmutter heiser, sich in eine theatralische Intonation rettend.
    Sie wusste nicht, dass ich mir mein Leben auch ohne ihr Zutun verdorben hatte. Wir verheimlichten unsere familiäre Katastrophe vor

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