Der gute Stalin
werden, hatte ich nicht die Kraft gefunden, Mama gegenüber zuzugeben, dass ich keine Felder sah.
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Vater mäht den Rasen auf der Datscha in der Diplomatensiedlung Poluschkino, wo jedes Haus ein Spiegelbild des Landes ist, in dem der jeweilige Diplomat gearbeitet hat. Die einen bauten noch zu Sowjetzeiten gediegene deutsche Häuschen, die anderen kalifornische, die dritten bulgarische oder rumänische, die vierten rote, mit Holz verkleidete im skandinavischen Stil. Meine Eltern erbauten etwas, was entfernt an ein Alpen-Chalet erinnerte. Eigentlich fehlten in der Siedlung nur noch chinesische Pagoden und russische Holzhäuser. Wäre Vater nicht nach Paris, sondern in ein anderes Land gegangen, hätte sich mein Leben anders entwickelt.
Jedem Russen mangelt es an Wärme. Aber es gibt zwei Mittel, gegen die Geografie anzukämpfen: sich Freunde anzuschaffen und Wodka zu trinken. Außerdem hat der Russe seine eigenen Tropen: Die Banja, das russische Dampfbad, das die Leute zunächst in rotgesichtige Teufel verwandelt, die auf Pritschen neben einem glühenden Ofen schwitzen, und danach in Engel, die nach dem Schwitzbad, in weiße Laken gehüllt, kaltes Bier trinken.
Wenn man von Amerika über den Nordpol nach Moskau fliegt, beginnt das Flugzeug schon am Rand des Eismeeres allmählich zu sinken. Russland ist eine Schönheit in Schnee und Pelzen, aber der Russe lehnt es ab, sich als Nordländer zu verstehen, trotz Weißer Nächte in Petersburg, Nordlicht in Murmansk, Sibirien und der Taiga. Der Norden, das sind für ihn Finnland, Norwegen und vielleicht Jakutien, Russland dagegen ist das in Richtung Polarkreis abgedriftete geistige Zentrum der Welt. Russland ist nicht aus freiem Willen nach Norden ausgewichen, als es im frühen Mittelalter vor den Überfällen von Nomadenvölkern aus den Steppen des Südens floh. Es wartet auf seine Rückkehr in den warmen Schoß der Zivilisation.
Ich erlitt einen klimatischen Schock. Das Pariser Klima war ganz nach meinem Herzen. Mir gefallen die Dezember, in denen noch Rosen blühen. Ich träumte mein ganzes Leben von Platanen und Kastanien. Paris wirkt ansteckend mit seinem Klima. Es ist unbekümmert. Die Schneewüste Russlands durchbricht der Buchsbaum im Jardin du Luxembourg, der sich in den Geruch meines Knabenalters verwandelt, die Visitenkarte meines Andersseins.
Wenn man in einem sowjetischen Zug durch Deutschland und Belgien fährt, spürt man jedes Mal die angespannte Düsterkeit des Himmels, die Unbeständigkeit des Wetters, aber kaum hat man die französische Grenze überquert, gibt es am Himmel einen unhörbaren Knall, die Wolken fliegen in verschiedene Richtungen davon, der Horizont weitet sich, der Himmel wird höher, die Pyramidenpappeln werden kräftiger, und ins Zugfenster sticht die Sonne.
Paris hat nicht die Eindeutigkeit eines südlichen Kurorts mit Palmen. In Rom wäre ich zum Hedonisten, in Berlin zum Exzentriker, in New York zum sowjetischen Beamten geworden, aber nur Paris konnte zu meiner zweiten Heimat werden.
Von der dünn besiedelten Insel meines frühkindlichen Paradieses in Moskau brachte man mich in das traditionelle echte Weltparadies – besungen, gerühmt und damals noch, Mitte der fünfziger Jahre, unkastriert, lebendig und real. In diesem Paris arbeiteten viele Weißgardisten als Taxifahrer und sprachen in ihrem verlorenen Vogeldialekt; für sowjetische Menschen war es nicht ungefährlich, mit dem Taxi zu fahren. Ich begriff recht wenig, aber ich spürte vieles und nahm es durch die Haut auf. Ich tanzte nicht in diesem tanzenden Paris, ich ging nicht in Jazzclubs, ich saß nicht mit dem schielenden Sartre im Café. Aber ich veränderte mich grundlegend, ohne es zu ahnen. Allmählich veränderten sich auch meine Eltern.
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Ich sehe wie im Traum, wie sie sich, als wäre es im Theater, anfangen umzukleiden. Alles beginnt mit dem Umkleiden. Bei Mama werden plötzlich Arme und Hals freigelegt. Sie wird zusehends jünger, ihr Haar lockig. Anstelle der Hochfrisur, die ihrem Gesicht einen ewig erstaunten und besorgten Ausdruck verlieh, trägt sie das Haar jetzt kurz. Ihre Fotos aus der Zeit vor Paris zeugten von der asiatischen Prägung Russlands, Bloks Skythen mit den breiten Wangenknochen und den schmalen Augen – hier in Paris gewinnt dieses Asiatische weiche slawische Konturen. Mama trägt nun im Sommer modische gelbe oder hellblaue Glockenröcke und enge Blusen. Nach ihren strengen Moskauer Übergangsmänteln und einfarbigen Kleidern, genäht von
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