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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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Vater ist antihistorisch. Alles, wogegen er kämpfte, hat gesiegt. Alles, wofür er kämpfte, ist gemeinsam mit dem Namen des Landes, von dem er abgesandt war, untergegangen. Mit einer Ausnahme. Vater war Botschaftsrat für Kultur, und zu seiner Zeit begann der Kulturaustausch. Nach Paris fuhren sowjetische Musiker, der Zirkus, Galina Ulanowa. Die Franzosen heulen vor Begeisterung. Die Säle sind zum Bersten voll. Die russischen Emigranten sitzen in den Konzerten und weinen. Die Emigranten waren schlimmer als die Ausländer. Einmal fuhr ich mit meinen Eltern an die Nordsee in den belgischen Kurort Oostende. Nichts ahnend und friedlich sitzen wir in einem Café. Ich trinke Kakao. Plötzlich – ein Skandal. Irgendwelche netten Leute, die ebenfalls als Familie in dem Café sitzen, verlangen vom Besitzer, uns hinauszuwerfen, weil wir aus Moskau kommen.
    »Das sind sowjetische Mörder!«
    Der Besitzer wirft uns nicht hinaus, doch wir flüchten selbst so schnell wie möglich. Ich trinke nicht einmal meinen Kakao aus. Zwischen uns ein tiefer Graben von Millionen Menschenleben. Mein Vater ist ein Öffner kultureller Schleusen. Aber Papa mag trotzdem die Kultur nicht richtig; sie erscheint ihm als politischer Krähwinkel. Kultur – das ist Freizeitgestaltung, der sonntägliche Spaziergang durch die Museen. Er träumt davon, politischer Botschaftsrat zu werden, der unter Leitung des Botschafters Winogradow dem Westen realen Schaden zufügen kann.
    Meinen anderen Vater kannte ich kaum, den, der in der Sprache des Hasses dachte und dabei den leninschen Wortschatz des Klassenkampfes benutzte, den Vater, der Wörter benutzte wie Provokation, Schmutzkampagne, Lügenmärchen, Helfershelfer, Politikaster. Wie er frohlockte, als Chruschtschow während seiner Frankreichreise ( 1960 ) in Reims die Franzosen in die Bredouille brachte, die den Namen ihrer Erzfeinde nicht über die Lippen bekamen.
    »Also, wer hat mit Ihnen im Osten gekämpft?«
    »Wir erinnern uns nicht.«
    »Soll ich es Ihnen sagen? Wie sie hießen?«
    »Wer?«
    »Die Faschisten!«
    Unsteter Blick. Die französischen Politiker, voran ihr Minister, schweigen feige. Ich weiß nicht, was meinem Papa durch den Kopf geht. Er erzählt mir glücklich, wie ein Mitarbeiter der westdeutschen Botschaft versuchte, gegen den von Chruschtschow geschürten Hass auf sein Land und dessen offizielle Delegation zu protestieren, der mein Vater nicht angehörte, die er jedoch gewissenhaft bediente.
    Wenn aber der stellvertretende Außenminister Semjonow, ehemals Kommandant von Berlin und Vaters Vorgesetzter, der in seiner Freizeit eine Schirmmütze trug und auf Lenin machte, Vater veranlasste, abends Lenin zu studieren, um bei ihm Antworten auf Fragen der aktuellen Politik zu finden, dann wirkte Vater, in unserer Moskauer Wohnung auf der Gorki-Straße nach dem Abendessen in seinem aus Paris mitgebrachten gelben französischen Sessel sitzend, um sich herum die weinroten Bände mit Lenins Profil gestapelt, einen Bleistift in der Hand, wie ein gehetzter Schuljunge.
    *
    Ich weiß: Mein Papa ist der gute Stalin. Ich habe meinen Vater niemals betrunken gesehen. Exquisites Trinken, Vorliebe für Whisky – das ist die Hauptkrankheit der Diplomaten aller Länder, einschließlich der islamischen Staaten, wie auch ihrer Ehefrauen, eine Krankheit, die in der Regel mit Alkoholismus im Rentenalter endet. Vater liebte den russischen Wodka, aber er trank nie auf russische Art, um sich zu betrinken. Er konnte einen Viertelliter Wodka im Schrank verstecken und so trinken, dass Mama es nicht bemerkte, die, seit ihrer Kindheit durch ihren alkoholkranken Vater traumatisiert, den Alkoholkonsum in unserer Familie streng überwachte, aber er erlaubte sich niemals, die Grenzen des Anstands zu überschreiten. Die Vorstellung, dass er sich voll laufen lässt und kotzt, ist ausgeschlossen. Wie oft habe ich mit trüben Augen die Kloschüssel umarmt und mein Innerstes nach außen gekehrt – ihm ist das nie passiert. Ich habe von meinem Vater nie ein obszönes Wort gehört. Nicht einmal das Wort »Scheiße« gebrauchte er. Und sogar das Wort »Mist« sprach er in seltenen Fällen aus. Die Geschichte, wie er den schottischen Matrosen saftige Schimpfwörter beigebracht habe, erscheint mir unglaubwürdig.
    Allerdings sagte Papa immer Schófför statt Chaufféur und Káffee statt Kaffée (was seit meiner Kindheit an mir klebte und lange nicht abgehen wollte). Aber meine Eltern verabscheuten russische Grobheit, sie gingen

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