Der gute Stalin
Life blätterte.
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Papa brachte immer verschämt blaue Tüten mit lauter Köstlichkeiten aus einer Sonderverteilungsstelle im Kreml mit: knackige Würstchen, feine »Doktorskaja«-Wurst, gekochten Schinken, Lachs, gedörrten Störrücken, Krabben.
Leckere Krabben, zarter Fisch,
in jedem Haus, auf jeden Tisch!
verkündete eines der seltenen Reklameschilder jener Zeit am Eingang zum »Aquarium«-Garten mit den zwei riesigen hochherrschaftlichen Vasen und den Weinblätter kauenden Ziegen (dort funkelt jetzt wie in Las Vegas die Leuchtschrift eines Kasinos). Für den Nachtisch bekam Papa zu lächerlichen Preisen Halwa, blassrosa Fruchtkonfekt, Schaumgebäck mit Rumaroma und Schokoglasur, »Mischka im Kiefernwald«, Kiewer kandierte Früchte, Lebkuchen mit Honig und andere Süßigkeiten. Manchmal hatten die Tüten dunkelrote Flecken: Das war Blut von frischem Rinderfilet. In der Küche schwebte der würzige Geruch von kleinen frischen Gurken mit pickliger Schale und gelbem Fruchtknoten, und das im tiefsten Winter, der frostige Farnwedel auf das Fenster malte. Das berühmte Kochbuch der Stalin-Zeit Über schmackhaftes und gesundes Essen mit seinen eleganten, sepiafarbenen Fotos von kulinarischem Überfluss, von Edelfischen, Spanferkel und georgischen Qualitätsweinen wirkte bei uns zu Hause keineswegs wie eine Verhöhnung des sowjetischen Menschen.
Ich war dünn und aß nicht gern. Im Kampf um meinen Appetit griff meine Großmutter zur Lebertranfolter. Ihr Traum, aus mir ein dickes Kind zu machen, wurde eines Tages wahr; wir ließen den Moment nicht ungenutzt verstreichen und rannten schleunigst zum Fotografen, um uns Arm in Arm, Wange an Wange verewigen zu lassen. Zarte Wolken von Privilegien hüllten alle Seiten unseres Lebens ein: Vom modischen Anzug, der einmal im Jahr für Papa aus importiertem englischen Tuch gratis beim Schneider am Kusnezki Most genäht wurde, über die Poliklinik in der Siwzew-Wrashek-Straße mit Läufern in den Korridoren, gefiederten Palmen in Kübeln und sanften, wie aus Kindermärchen entsprungenen Ärzten, das blank geputzte, bewachte Treppenhaus, denn in unserem Aufgang wohnte Genosse Wlassik, der allmächtige Chef der stalinschen Leibwache, die nach adsharischen Mandarinen duftenden Kinderneujahrsfeste im Kreml mit beachtlichen Geschenken, das Heftchen mit Kinokarten für exklusive Filme, die Spezialversandabteilung für Bücher (Subskription für Gesamtausgaben oder im Buchhandel nicht erhältliche Werke), Theaterkarten für jede beliebige Vorstellung bis hin zur Reservierung der letzten Ruhestätte auf dem Friedhof des Neujungfrauenklosters.
Im Sommer fuhren wir in einem langen schwarzen SIM , der mit seiner bezahnten Schnauze aussah wie eine amerikanische Limousine vom Ende der vierziger Jahre, nach Trudowaja auf eine der Regierungsdatschas bei Moskau. An endlosen Juniabenden, überdreht vom vielen Radfahren und dem Duft der Faulbäume, den Geschmack von kuhwarmer Milch auf den sensiblen, nicht mehr kindlichen Lippen, spielte ich dort mit Marussja Puschkina, der unser Chauffeur mit schwarzer Schirmmütze nachstellte, auf der hölzernen Vortreppe Schach.
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Als der geborene Sieger (meine Eltern hatten mir zu Ehren des Sieges über Nazideutschland diesen Namen gegeben) gewann ich gegen Marussja die erste Schachpartie meines Lebens. Die Welt war voller gediegener Sachen: Straßenlaternen, Hochhäuser, Metrostationen, weiße Parkbänke mit gebogener Rückenlehne, auf einer davon, in Sokolniki, setzten wir ungeachtet eines Schneesturmes unser Dauerturnier fort. Die Schachfiguren steckten halb im Schnee. Mich schüttelte hin und wieder noch ein abklingender Keuchhusten; sie kicherte viel und wischte sich mit ihrem Fäustling, der ein Loch hatte, die Nase. Wir waren gleichwertige Partner, die oft nicht aufpassten, wir verwechselten die Läufer mit den Königen und waren vom Charakter her beide Tollköpfe.
Verlieren zu lernen fiel mir schwer. Bisweilen warf ich heulend mit Pferden und Bauern nach Marussja. Wenn wir uns wieder versöhnt hatten, fischten wir die Figuren gemeinsam aus dem Schneewasser. Der Frühling brach immer sehr plötzlich herein, überraschte uns auf dem Rückweg zur Metro mit Bächen, tiefen Pfützen rings um die Linden, durchweichten Stiefeln, einer durch die Sonne wie verdünnten Luft. Die Familie bildete mit ihren Bediensteten, Verwandten, engen Freunden und Mamas Freundinnen einen eingeschworenen Clan. Ich lebte wie Gott in Frankreich.
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Aus dem Artikel des
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