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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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auszusuchen?«
    »Er war mit seinen Knöpfen beschäftigt.«
    »Und ihr habt lange so nebeneinander gestanden, in einer Abteilung, er mit den Knöpfen und du mit den weißen Spitzenhandschuhen?«
    »Dummkopf«, sagte Großmutter, »so etwas fragt man nicht.«
    Und wieder sprach sie einen ganzen Tag lang nicht mit mir, sogar beim Abendessen schwieg sie, obwohl das Essen köstlich war, denn sie konnte gut kochen. Besonders gut machte sie Piroggen mit Fleischfüllung. Wenn Großmutter Piroggen mit Fleischfüllung machte, kriegte sie immer rote Backen. Mit solchen roten Backen erzählte sie vom Zaren.
    »Vielleicht war der Zar mit seiner Frau da?«, fragte ich sie. Das war bereits im Winter, in der Moskauer Wohnung auf der Gorki-Straße.
    »Lass dich nicht immer ablenken«, sagte Großmutter, »mach lieber deine Aufgaben.«
    »Warum hast du damals Dummkopf zu mir gesagt?«
    »Hab ich doch gar nicht.«
    »Hast du doch.«
    »Du schwindelst.«
    »Tu ich nicht.«
    »Er war allein«, sagte Großmutter. »Er stand im Gostiny Dwor und suchte sehr lang Knöpfe aus.«
    »Und die Zarin?«
    »Sag es bloß niemandem.«
    »Bestimmt nicht.«
    »Dass ich den Zaren gesehen habe.«
    »Warum nicht?«
    »Versprochen?«
    »Versprochen.«
    »Überhaupt niemandem.«
    »Nicht einmal Mama?«
    »Nicht einmal Mama.«
    »Aber Mama muss man alles erzählen.«
    »Das mit dem Zaren braucht man Mama nicht zu erzählen.«
    »Ist er wichtiger als Mama?«
    Großmutter dachte nach. Sie war die Mutter meines Vaters.
    »Weißt du, dass dein Papa von deiner Mama fortgehen will?«
    »Wohin?«
    Ich stellte mir vor, wie Papa von Mama fortgeht, einen verschneiten Waldweg entlang, und mir wurde angst und bange und sehr kalt für ihn.
    Seitdem fühle ich mich, wenn ich mir Knöpfe kaufe, besonders im Gostiny Dwor in Petersburg, wie der russische Zar.
    *
    Geboren im Tohuwabohu der Nachkriegszeit, hatte ich offenbar ein fremdes Schicksal verpasst bekommen. In dem Begleitdokument, das in allgemeinen Zügen die Matrize meiner irdischen Existenz erklärte, wurden Handlungen und Taten angekündigt, auf die ich entschieden unvorbereitet war. In mir nistete sich ein schwarzer goldglänzender Panther ein, während dort zugleich auch Platz für ein stilles, zutrauliches Tierchen war. Ich war langsam. Stundenlang konnte ich meine Schnürsenkel zubinden; bis heute habe ich das nicht richtig gelernt. Sie gehen immer wieder auf, und die Frauen, die neben mir hergehen, treibt das jedes Mal zum Wahnsinn. Ich hüpfe auf einem Bein auf der Straße herum, auf der Suche nach etwas, wo ich meinen Fuß mit dem zuzubindenden Schuh draufstellen könnte. Zuerst gefällt es ihnen als Schrulle von mir, oder sie lachen über meine Ungeschicklichkeit, aber dann werden diese Weibsbilder immer fuchsteufelswild.
    Andererseits war ich zielstrebig. Ich war ein Orkan von Wünschen, der alles um sich herum hinwegfegte. Dieses irre Missverhältnis drückt sich in allen meinen Kinderfotos aus. Der wahnsinnige Blick aus schwarzen Augen, die die Welt durchbohren, um neue, nie da gewesene Gesetze zu erspähen, gehört einem schüchternen Kind mit schlechter Haltung und zartem, bezauberndem Lächeln auf Kannibalenlippen. Die riesigen Nasenlöcher sind fähig, einen ganzen Geruchsteppich in sich aufzunehmen, den Skalp einer Grasdecke abzuziehen, das Aroma von Essen und Trinken zu stehlen. Diese Nase mit den zitternden Nasenflügeln ist besonders aggressiv und unmenschlich. Ein riesiger Kopf, auf den weder eine Pelzmütze noch die Schirmmütze der sowjetischen Schuluniform passte, ein Kopf, dessen Umrisse dem Schädel eines prähistorischen Affen glichen, was meine Mitschüler sogleich bemerkten, die mich dann auch mit dem Spitznamen »Affe« neckten. Der Kopf saß auf schmalen Schultern, und wenn ich ihn mit meinen schmalen Händen (die schmal blieben) fasste, dann hatte das etwas von Munchs Schrei .
    *
    Aus dem Artikel von Kevin Close, International Herald Tribune , 7 . Februar 1979 :
    SOVIET UNION IS HARASSING FOUNDERS OF NEW JOURNAL
    MOSCOW ( WP ). – Soviet authorities have begun a campaign of harassment and threat to intimidate the founders of a new unofficial literary magazine that seeks to challenge state control of the arts.
    The five editors of Metropol have been upbraided by the Moscow Writers Union and several were threatened with expulsion from the Union.
    State publishing watchdogs, in the two weeks since the journal was announced, have been withdrawing from circulation films, plays, novels

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