Der gute Stalin
ersten Sekretärs der Moskauer Schriftstellerorganisation, Felix Kusnezow, Moskowski literator , 9 . Februar 1979 :
Metropol – EINE BLAMAGE
(…) Blößen, die wenigstens einer gewissen Bedeckung bedürften, gibt es in diesem Sammelband von Materialien der unterschiedlichsten Sorte mehr als genug. Hier werden im Überfluss präsentiert: literarische Geschmacklosigkeit und Hilflosigkeit, Mittelmaß und Banalität, nur leicht übertüncht mit primitivem »Absurdismus« oder einer neu erstandenen Gottsuche. Über das extrem niedrige Niveau dieses Bandes äußerten sich praktisch alle Teilnehmer an der gemeinsamen Sitzung von Sekretariat und Parteikomitee des Moskauer Schriftstellerverbands, wo es um den Almanach Metropol ging.
Paradox zudem: Angestrengte Gespräche über die Seele stehen direkt neben sittenloser Schmiererei, mit der sich zum Beispiel der junge Literat V. Jerofejew in seiner Erzählung »Satansbraten« befasst, deren Held die Aufschriften und Darstellungen an den Wänden des Männer- WC s betrachtet und dann zu demselben Zweck die Damentoilette aufsucht. Und allein der Titel der zweiten Erzählung desselben V. Jerofejew: »Gedämpfter Orgasmus des Jahrhunderts«! (…)
*
Jeder Russe möchte gern Zar sein, aber nicht jedem gelingt es. Die russischen Zaren waren immer sehr demokratisch. Meine Großmutter Anastassija Nikandrowna, geboren im Gouvernement Kostroma, Mädchenname Ruwimowa, hat in St. Petersburg den letzten russischen Zaren mit eigenen Augen gesehen. Er kaufte ganz ohne Leibwache auf dem Newski-Prospekt im Gostiny Dwor Knöpfe. Offenbar hatte er einen Knopf seines Uniformmantels verloren und, da seine Bitte, neue zu kaufen, nicht gleich erfüllt wurde, war er einfach selbst losgegangen. Nicht etwa jemandem zum Trotz, sondern ganz friedlich. Er wollte niemandem demonstrieren, dass er so war wie alle andern: Er steht da und sucht Knöpfe aus. Aber genau das kam dabei heraus. Meiner Großmutter blieb der Zar damit auf ewig im Gedächtnis, dieses Erlebnis ging in ihre kleine Sammlung der schönsten Lebenserinnerungen ein. Hätte Nikolai der Zweite nicht im Gostiny Dwor Knöpfe gekauft, wäre ihr Leben vielleicht sehr viel ärmer an Erinnerungen gewesen. Und dann auch noch so eine tolle Geschichte.
»War der Zar wirklich allein, ganz ohne Leibwache?«, fragte ich sie, als ich klein war. Das war in jenen Jahren, als man den russischen Zaren besser überhaupt nicht erwähnte. Und sie antwortete so, als hätte sie nicht nur gesehen, wie der Zar im Gostiny Dwor Knöpfe kaufte, sondern als wäre sie ihm sehr nahe gewesen, so nah wie nur möglich; näher wäre gar nicht gegangen:
»Ich habe niemanden sonst bemerkt.«
»Was denn, überhaupt keine Leibwache?«
»Nein.«
»Waren vielleicht seine Töchter mit dabei?«
»Welcher Mann«, wunderte sich Großmutter, »würde in den Gostiny Dwor mit seinen Töchtern Knöpfe kaufen gehen?«
»Vielleicht war sein Sohn dabei?«, bohrte ich weiter, ganz wie ein kleiner Junge.
»Also hör zu«, sagte sie, »ich erzähle dir, wie das alles war. Ich kam in den Gostiny Dwor, um weiße Spitzenhandschuhe zu kaufen …«
»Vielleicht war das gar nicht der Zar, und dir kam es bloß so vor?«, platzte es aus mir heraus.
Großmutter verschlug es die Sprache. Sie sah mich mit verständnislosem Blick an, als hätte ich ihr die Uhr vom Handgelenk gestohlen. Dann, als sie die Fassung wiedergewonnen hatte, wandte sie sich von mir ab und sprach den ganzen Tag nicht mehr mit mir. Am nächsten Tag – wir waren auf der Datscha – fragte ich sie:
»Woran hast du denn erkannt, dass es der Zar war? An den Schulterstücken?«
»Der Zar hatte nicht auf den Schulterstücken stehen, dass er der Zar ist«, belehrte mich Großmutter.
»Na, dann am Schnurrbart?«
»Alle Männer in Russland trugen Schnurrbärte«, antwortete Großmutter, »und außerdem hatten viele auch einen Vollbart.«
»Dann an seinem Gang?«
»Er ging nicht, er stand da und besah sich Knöpfe.«
»Haben alle ihn erkannt oder nur du?«
»Ich habe sonst niemanden gesehen. Nur ihn.«
»Hast du weit weg von ihm gestanden, als du die Handschuhe gekauft hast? Wie viel Meter waren zwischen euch?«
»Ich war noch nicht dabei, sie zu kaufen, ich habe mich nur nach den Preisen erkundigt.«
»Hast du neben ihm gestanden?«
»Handschuhe und Knöpfe wurden im Gostiny Dwor in derselben Abteilung verkauft.«
»Hat er nichts zu dir gesagt? Hat er dir nicht geholfen, die weißen Spitzenhandschuhe
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