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Der Hahn ist tot

Der Hahn ist tot

Titel: Der Hahn ist tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Jugendjahre über hautnah mitgekriegt, und mir war, als wäre sie hier wieder auferstanden.
    Sie war wohl wirklich seine Ehefrau. Soweit ich verstehen konnte, machte sie ihm schwere Vorwürfe und gab ihm die Schuld am Scheitern der Beziehung. Einmal konnte ich auch Witold deutlich hören:
    »Hilke, es war deine letzte Chance, du hättest auf keinen Fall abbrechen dürfen! Jetzt fängt doch alles wieder von vorn an!«
    Aha, die Hilke hatte eine Entziehungskur nicht durchgehalten, sie war geflüchtet. Hinten im Flur sah man übrigens zwei unausgepackte Reisetaschen. Ich hatte großes Mitleid mit Witold, eine solche Frau hatte er nicht verdient, der Ärmste. Sie hatte den Haushalt verkommen lassen, Mann und Kinder nicht versorgt! Mir wurde Witolds Unglück allmählich richtig klar.
    Obgleich es Hochsommer war, fror ich unter den feuchten Apfelbäumen. Wieder kroch ich einen Meter näher. Ein Apfel fiel durch knackende Äste zu Boden. Witold und Hilke schienen dem Geräusch sekundenlang nachzulauschen, aber dann redeten, rauchten, tranken sie weiter. Ich hatte solche Szenen bisher nur im Film gesehen. Beide packten aus, beschuldigten sich, zerfleischten sich, haßten sich abgrundtief. Sie nannte ihn »Rainer«, das war mir sehr recht, für mich war er »Witold«.
    Lang hatte ich gelauscht und versucht, mein schepperndes Herz nicht zu laut werden zu lassen, damit die beiden im Wohnzimmer es nicht wie eine Bombe ticken hörten. Witold wanderte nach seiner Gewohnheit manchmal quer durchs Zimmer und warf einmal den glühenden Zigarettenstummel durch die offene Tür in den Garten; ganz in meiner Nähe ging er nieder, und ich befürchtete schon, das Glimmen könnte stärker werden und mich sichtbar machen. Die Zigarette erlosch, und ich beschloß, nun zu gehen. Trotz der großen Aufregung war ich sehr müde, schließlich war es recht spät.
    Gerade als ich mich umdrehen wollte, schrie Hilke plötzlich laut: »Dann bring’ ich uns beide um!« und zog einen Revolver aus der Jackentasche. Ich fiel vor Schreck aufs rechte Knie und tat mir ziemlich weh. Um Gottes willen, war sie verrückt geworden! Ich wollte hervorstürzen und mich vor Witold stellen. Er war aber schon mit zwei großen Schritten bei ihr und nahm ihr das Ding einfach ab. Sie ließ es widerstandslos geschehen.
    Nun ging ich doch nicht heim. Alles fing nach vielleicht fünfminütigem Schweigen, während dem sich beide nur angewidert anblickten, wieder von vorn an. Witold saß auf dem Sofa, den Revolver in der Hand. Woher sie ihn überhaupt hatte, schien ihn nicht weiter zu interessieren. Es ging wieder um Vergangenes, um andere Männer, andere Frauen, um die Schwiegermutter und die Söhne, um Geld, ja auch um dieses weinbewachsene Haus. Ich konnte das meiste nicht kapieren, weil ich die Vorgeschichte nicht kannte. Aber plötzlich sagte Hilke eiskalt und schneidend: »Wenn ich nicht mit ihm geschlafen hätte, wäre deine Scheiße nie gedruckt worden.«
    Witold wurde leichenblaß.
    Er hob den Revolver und schoß auf sie. Der Knall riß mich hoch, ich rannte ins volle Licht auf die Terrasse. Hilke kippte um, verdrehte die Augen, Blut quoll aus ihrer grünen Bluse.
    Witold war sofort bei ihr, schrie auf sie ein, rannte ans Telefon, hielt wieder inne, nahm das Telefonbuch, blätterte, stellte fest, daß er keine Brille griffbereit hatte, fluchte, sah wieder zu der blutenden Frau und schien den Verstand zu verlieren.
    Ich betrat das Zimmer. Es schien ihn überhaupt nicht zu verwundern.
    »Schnell, rufen Sie einen Arzt«, sagte er kreidebleich und taumelte auf einen Stuhl. Ich machte ihm eine Zigarette an, drückte ihm das Glas in die Hand.
    »Ich kümmere mich jetzt um alles«, sagte ich so ruhig, wie ich konnte. Er sah mich mit einem leeren Ausdruck an, als schwimme er unter einer dicken Glasglocke, trank und rauchte nicht. Unter Schock, dachte ich. Dann sah ich nach der Frau. Fahl die Haut, kein hörbarer Atem. Wie in einer Großaufnahme sah ich, daß sich ihr Schmuck aus Koralle, Silber und Perlmutt jetzt nicht mehr von einem grünen Untergrund, sondern von der gänzlich durchgebluteten, dunkelglänzenden Bluse abhob.
    »Ihre Frau ist tot«, sagte ich. Er stöhnte laut auf.
    »Die Polizei«, preßte er heraus und wies mit dem Weinglas aufs Telefon. Ich ging auf den Apparat zu. Nein, das kannst du nicht machen, fuhr es mir durch den Kopf, er wird verurteilt, jetzt, wo wir uns gerade erst kennenlernen. Er kommt für Jahre ins Gefängnis!
    »Sie müssen es anders

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