Der Hahn ist tot
haben.
Zu Hause war ich wieder von Zweifeln geplagt. Und wenn er nun wirklich zu haben war, ob er dann ausgerechnet mich haben wollte, vorausgesetzt natürlich, wir würden uns überhaupt kennenlernen. Ich stand jetzt so oft vor dem Spiegel wie in den ganzen letzten zwanzig Jahren nicht. Ich besah mich kritisch. Ob ich mich im Gesicht liften lassen sollte, obgleich ich so etwas immer verachtet hatte? Er war neunundvierzig und sah unerhört gut aus - Männer in diesem Alter, so hört man immer wieder, bevorzugen nicht gerade Frauen in meinem Alter.
Abends hatte ich jetzt ein festes Programm: In der Dämmerung versuchte ich mit dem Dieskau meinem Traummann zu begegnen. In der Dunkelheit kroch ich ohne Hund in seinem Garten herum - übrigens nur noch in dunklen Hosen; wie ein Einbrecher hatte ich eine Art Berufskleidung angezogen. Darüber hinaus wählte ich manchmal seine Telefonnummer, allerdings aus Ängstlichkeit nie von meinem Apparat aus (ich hatte zu oft von Fangschaltungen gelesen), sondern aus einer Zelle. Ich hörte ihn dann seinen Namen sagen, manchmal mit heiterer Stimme, manchmal müde. Ich legte immer sofort auf und wußte, er ist zu Hause, sitzt vielleicht am Schreibtisch. Einmal prallte ich wieder, allerdings in voller Absicht, fast mit seinem Fahrrad zusammen. Er lächelte wieder, wie beim ersten Mal, und sagte mit seiner atemberaubenden Stimme: »Guten Abend, immer ganz in Gedanken, nicht wahr?«
Ich lächelte zurück, konnte aber leider nichts Kluges oder Schlagfertiges entgegnen.
Nach zwei Wochen wurde Frau Römer entlassen, und ich brachte ihr den Dieskau zurück. Halb war ich froh, halb traurig, daß ich nun keinen Gefährten mehr hatte. Aber warum sollte ich nicht auch ohne Hund abends Spazierengehen? Frau Römer hatte noch etwas auf dem Herzen: Sie sollte schon bald in Kur gehen, und da gab es schon wieder das Hundeproblem. Ihre Schwester hatte eine Allergie gegen Tierhaare, ihre Tochter war für ein Jahr in den Staaten. Klar, ich erklärte mich sofort bereit, den Hund weitere vier Wochen zu beherbergen.
An diesem ersten Abend ohne den Dieskau ging ich nicht mehr weg. Es war auch allerhand liegengeblieben, was ich in diesen zwei Wochen nicht erledigt hatte. Mein kleiner Haushalt war fast ein wenig verlottert, meine Wäschetruhe war voll bis zum Rand, ich mußte mir dringend eine Haarpackung auflegen, eine pflegende Gesichtsmaske einwirken lassen. Aber ich hatte das Gefühl einer Süchtigen, die sich nur mit äußerster Willensanstrengung zurückhalten kann, das Ziel ihrer Begierden aufzusuchen. Ich alte Scheune brannte.
Am nächsten Tag fuhr ich aber wieder los, ohne Hundebegleitung. Es dämmerte, als ich an Witolds Haus vorbeikam, ein zweites Auto stand vor der Tür. Besuch! Mich erschreckte der Gedanke, Beates Tochter Lessi, die ja schon einmal mit ihrer Freundin hier gewesen war, könnte zufällig da sein und mich sehen. Aber es wäre schon ein großer Zufall; der Wagen sah jedenfalls nicht nach jungen Leuten aus, viel zu spießig. Ich lief in Ladenburg herum, bis es vollkommen dunkel war. Inzwischen kannte ich mich gut aus. Im Schutze der Nacht trat ich die zweite Runde an. Wie letztes Mal kroch ich auch wieder in der Apfelplantage herum, bekam Dreck in die Augen und erlebte mein laut pochendes Herz als Zeichen einer neuen Lebendigkeit. Ja, es war Besuch da. Offensichtlich nicht der Sohn, sondern eine Frau. Die große Glastür stand offen, und man konnte Gesprächsfetzen verstehen. Ob es seine Frau war? Gebückt, ja fast auf allen vieren, schlich ich noch ein wenig näher. Die Fremde mochte Anfang Vierzig sein, sah aber schlecht aus. Sie war mager, schwarzhaarig, hatte ein interessantes, aber durchaus nicht schönes Gesicht. Auf einer melonengrünen Bluse trug sie einen auffälligen orientalischen Schmuck. Sie rauchte pausenlos, und Witold schien sich auch schon viele Zigaretten angesteckt zu haben. Ich hasse dieses Gequalme. Wäre ich seine Frau, hätte er sich das längst abgewöhnt. Eine leere Weinflasche rollte auf dem Boden, gegen die die Frau einmal aggressiv mit den Füßen trat, eine angebrochene stand auf dem Tisch, zwei halbvolle Gläser daneben.
Witold sprach wenig und immer nur sehr leise, so daß ich ihn überhaupt nicht verstehen konnte. Aber die Frau schrie mit fast hysterischem, schrillem Diskant. Auf einmal wußte ich, was mit ihr los war: klar, eine Alkoholikerin. Nicht, daß sie direkt betrunken war, aber ich hatte den Abstieg einer trunksüchtigen Tante meine ganzen
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