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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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sich mit Zellaufbau oder dem Zitronensäurezyklus beschäftigen. Lieber suchten sie nach einem berühmten Vorfahr, deuteten Sterne oder lernten fremde Sprachen. Diavorträge über Fernost. Und dann noch mal etwas von der Welt sehen. Dabei war die Welt doch hier: der Wald, das Feld, der Fluss, das Moor. All das gab einen respektablen Lebensraum für zahllose Arten ab. Darunter eine Menge, die das Umweltministerium unter Naturschutz gestellt hatte. Einige sogar, deren Exemplare einzeln erfasst wurden, weil sie so selten geworden waren. Hin und wieder tauchten auch neue Arten auf, ungebetene Gäste, illegale Einwanderer. Der Marderhund aus Sibirien. Ein Allesfresser. Ein Aasfresser. Sah aus wie ein Waschbär und nahm den Dachsen und Füchsen die Baue weg. Schleppte Krankheiten ein und verdrängte heimische Arten aus ihren ökologischen Nischen. Ihr Reproduktionserfolg war enorm, weil sich beide Eltern um den Nachwuchs kümmerten.
    Alle pflanzten sich munter fort. Nur ihre Artgenossen nicht. Stattdessen taten sie, als wäre hier nichts mehr zu holen, als fände die Zukunft woanders statt, irgendwo da draußen, jenseits der Elbe, der Grenze, des Kontinents. Alle sahen zu, dass sie irgendeinen Zipfel einer Wirklichkeit zu fassen bekamen, die sie hier partout nicht sehen wollten. Als ob es an diesem Ort kein Leben gab. Überall war Leben. Selbst im abgestandenen Regenwasser.
    Am Ende war das Wetter an allem schuld. Auch daran, dass ihre Tochter drüben blieb. Wie sie das gesagt hatte: Hat man sich einmal an die Sonne gewöhnt, ist man für Mitteleuropa verdorben. Mitteleuropa. Wie das schon klang. Der Ortswechsel, die Luftveränderung, das Klima wurde überbewertet. Sie waren doch nicht tuberkulös.
    Alle machten sich vom Acker. Nichts hatten sie begriffen. Wer die Welt verstehen wollte, musste zu Hause damit anfangen. In der Heimat. Unserer Heimat. Von Kap Arkona bis zum Fichtelberg. Abhauen war ja keine Kunst. Das hatte sie immer den anderen überlassen. Es hatte nur eine ganz kurze Zeit gegeben, in der sie mit dem Gedanken spielte. Aber das war lange her. Sie war geblieben. Freiheit wurde überbewertet. Die Welt war entdeckt, die meisten Arten bestimmt. Man konnte getrost zu Hause bleiben.
    »Nein, die Lohmark geht bestimmt zu ihrer Tochter nach Amiland. Schaut vom Verandaschaukelstuhl aus den Enkeln beim Spielen zu.« Kattner, der immer noch am Vertretungsplan fummelte.
    Netter Versuch.
    Wenigstens machten Meinhard und Thiele ihr Platz, als sie sich zu ihnen setzte. Ohnehin erstaunlich, wie schnell sich Meinhard eingewöhnt hatte. Ein junger Mann mit einem Mutterkörper. Mathematikreferendar. Der Gürtel saß eine Handbreit zu hoch. Ein tapsiger Sanguiniker mit roten Wangen und einem Flaum über der Oberlippe, der nicht zum Bart reichte. Unter seinem hellen, bis oben zugeknöpften Hemd zeichneten sich zwei spitze Brüste ab. Ein Fall für die Männerheilkunde. Etwas an ihm war unfertig und würde es immer bleiben.
    Thiele dagegen mit seinen scharfen Konturen, dem schmal geschnittenen Gesicht, um den Mund ein paar rissige Furchen. Sein angegrautes Haar trug er nach hinten gekämmt, und trotz eines zerfaserten Leninbartes machte er einen gepflegten Eindruck. Wie viele Kommunisten wirkte er beinahe aristokratisch. Immer besorgt. Aber fest entschlossen, dem Untergang seines Hauses gefasst entgegenzublicken. Meistens verzog er sich in sein Kabuff, eine Abstellkammer für Kartenständer und Unterrichtsmaterialien, die er als Büro in Beschlag genommen hatte. Sein Politbüro. Er rauchte importierte Zigarillos und wartete noch immer auf die Weltrevolution. Ständig machte er Geräusche, rumorte seine Peristaltik. Sein hagerer Leib war ein Verstärker all der Sorgen, die ihm querlagen.
    »Es ist die Pest.« Typisch Thiele. Murmelte immer irgendwas in seinen Weltanschauungsbart.
    »Was denn?« Meinhard verstand nicht.
    »Die Pest von heute.« Thiele starrte auf die Tischplatte. Armer alter Zausel.
    »Auf siebzig Frauen hundert Männer.« Er blickte hoch.
    »Verstehste? Die können sich die besten aussuchen.«
    Seine Frau hatte ihn verlassen. Zu DDR -Zeiten hatte sie rübergemacht. Aber jetzt tat er so, als wäre er Opfer des demographischen Wandels. Einer von den dreißig Männern, für die keine Frau mehr übrig geblieben war. Zum Junggesellendasein verurteilt. Meistens Dosenfutter, am Rande der Verwahrlosung. Gezwungen, seine Dreckwäsche selbst in die Maschine zu stopfen.
    »Der Rest kann ja schwul werden.« Kattner wieder.

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