Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky

Vom Netzwerk:

Breit grinsend setzte er sich zu ihnen. Ein wenig müde von den Ferien sah er aus. Unter dem Bürstenhaarschnitt ein Gesicht, das sie sich immer noch nicht merken konnte. Er fing an, seine Ärmel hochzukrempeln. Zum Vorschein kamen bemerkenswert braune Unterarme. Kattner, der Alleskönner, der Dauerdurchhalter, das wechselwarme Wesen. Keiner hatte diesen Job machen wollen. Er hatte sich erbarmt. Und mit den Jahren hatte sich der Sozialkundelehrer, der hergekommen war, um ihnen die Demokratie beizubringen, in ein Alphatier verwandelt. Aus dem Übergangsdirektor war ein gut gelaunter Vollstrecker geworden, der den Laden am Laufen hielt, solange es diesen Laden eben noch gab. Seit fünfzehn Jahren leitete er die Schule, und es schien ihm sogar Spaß zu machen, sie geradewegs ins Aus zu manövrieren. Er behauptete sogar, dass das für alle eine Chance sei. Für ihn vielleicht. Sein Abenteuerspielplatz. Kattner hatte immer noch was in der Hinterhand, zwei Pläne B. Ein Häuschen, eine geschiedene Ehe, zwei missratene Kinder. Vielleicht sogar drei, wenn das Gerücht stimmte. Verklemmt, aber kein Kind von Traurigkeit. Im Grunde war es ja auch egal, wer diesen Laden abwickelte. Der Letzte machte das Licht aus.
    »Ein Drittel starb an der Pest, fünfzehnhundertfünfundsechzig. Das ist jetzt die neue Pest.« Als ob das zur Sache tat. Aber für Thiele war immer Unterricht.
    »Thiele, du könntest wirklich was zur Regionalgeschichte machen.« Er sollte sich nicht so aufregen. Sie strich über seine fleckige Hand. Weich wie junges Leder.
    »Dreißig Prozent. Damit kann man schon ’ne Wahl gewinnnen.« Meinhard. Er wollte wohl ablenken.
    »Ja, Leute.« Kattner rieb sich die Hände. Der war schon wieder in Redelaune. Das sah man gleich. »Das hier ist eine Schule im Abbau. Aber wir verwalten nicht das Ende, wir machen diese Schule zukunftsfähig.« Schon klar: Der Tod gehörte auch zum Leben. »So neu und so dramatisch einmalig sind sterbende Landschaften überhaupt nicht. Anderswo werden auch Schulen geschlossen. Auch im Westen. Im Ruhrgebiet. Halb Niedersachsen steht leer. Das ist eine ganz allgemeine Entwicklung. Noch nichts von Landflucht gehört?« Dass er glaubte, sie hätten Nachhilfe nötig. »Dem Osten geht es sogar noch gut. Hier wurde ja wenigstens noch Geld reingesteckt. Die ganzen neuen Straßenlampen, die Autobahn …«
    »Die haben aber errechnet, dass die Autobahn sich gar nicht rentiert, weil es viel zu wenig Verkehr gibt.« Meinhard las anscheinend auch die Zeitung.
    »Ja, die Menschen kommen nicht her, die fahren weg. Die hätten lieber eine Einbahnstraße bauen sollen.« Endstation Vorpommern. Ein zugewiesener Lebensraum.
    »Ist schon verrückt.« Thiele räusperte sich und drückte den Rücken durch. »Früher war es eine Strafe, wenn man seine Stadt verlassen musste. Die Verbannung, das war das Allerschlimmste.« Er blickte auf. »Heute gehört man zu den Gewinnern.«
    Kattner biss in eine Möhre und lehnte sich zurück. »Die Martens hätten ein wenig schlauer geraten müssen, dann wären wir fein raus gewesen.«
    »Die Martens?« Wie dumm Meinhard gucken konnte.
    »Wie die Kaninchen …« Kattner steckte die Möhre in seine Faust. »Aber schad’ doch nichts. Drei solche Familien und wir wären gerettet gewesen. Wir hätten noch Klassen bis zur Rente. Aber nein! Wer Abitur hat, wird frigide.«
    »Sie meinen wohl unfruchtbar.« Meinhard hatte auch schon die Lehrerkrankheit. Den Berichtigungswahn.
    »Ach, das ist doch eh das Gleiche.«
    »Na, du hast dir alle Mühe gegeben, damit es reicht. Aber du hättest wohl ein wenig früher anfangen müssen.«
    Das saß. Kattner beugte sich wieder vor. Angriffslustig.
    »Hör mal zu, Lohmark. Wir mussten uns alle evaluieren lassen. Wir hatten alle Hospitanzen. Nicht nur du.«
    Dass er jetzt wieder damit anfing. Die Zeit der Eindringlinge war endgültig vorbei, die Zeit der Besserwisser, die sich einen Stuhl in die Ecke stellten, nur mal Mäuschen spielen wollten, wie es der letzte Hospitant, dieser kinnbärtige Knilch vom Schulamt, jovial lächelnd ausgedrückt hatte. Aber dieses Mäuschen war eine Ratte gewesen, die es gewagt hatte, ihren Unterricht zu kritisieren. Frau Lohmark unterrichtet frontal , stand in dem Bericht. Ja, wie denn sonst, Klugscheißer! Gesprächskreise wie die Schwanneke? Gruppenarbeit etwa? Die Kinder machten doch nur Blödsinn. Mikroskopierten Popel statt Zwiebelhäutchen. Und weinten den Pantoffeltierchen im Heuaufguss nach, wenn sie die