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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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man auf einer Luftbildaufnahme sehen konnte, die neuerdings im Sekretariat hing. Darunter das Gebäude mit den Fachräumen als großes I, ein versetzter Wurmfortsatz. Zwei teergraue Buchstaben auf sandigem Grund. Schlechte Bausubstanz. Hinter der Regenrinne wucherte der Betonfraß. Die Wallseite war immer feucht. Ein paar Plattenwege führten als schmale Stege zum ziegelroten Rechteck der Sporthalle. An der Wand neben dem Eingang des Hauptgebäudes stand in roten Sprühbuchstaben: Das Darwin stirbt aus!
    Nichts erinnerte mehr an Lilo Herrmann. Damals hatten sie alles richtig machen wollen und den alten Namen zusammen mit den Sperrholzbildern entsorgt. Die sogenannte Erweiterte Oberschule gleich umbenannt, noch vor dem Platz der Völkerfreundschaft und der Wilhelm-Pieck-Straße. Lilo Herrmann war tot und endgültig vergessen. Vier Jahre noch, dann war hier Schluss. Auch für sie. Inge Lohmark machte sich keine Illusionen. Irgendwo noch einmal neu anfangen? Nicht mit ihr. Einen alten Baum verpflanzt man nicht. Und sie war eine Frau, kein Baum – und auch kein Mann. Kattner hatte noch mal ein Kind gezeugt. Hieß es jedenfalls. Mit einer ehemaligen Schülerin, kurz nach dem Abitur. Strafrechtlich sauber. Wahrscheinlich war nichts dran. War ja auch egal. Ein Mann im besten Alter. Ihr Jahrgang. Der alte Sack. Unter Umständen würde sie achtzig, neunzig Jahre alt werden. Statistisch gesehen war das sogar sehr wahrscheinlich. Sie gehörte zu der rosa Beule der Alterspyramide in den jährlichen Demographieberichten, die den Geburtenrückgang und den alarmierenden Seniorenüberschuss demonstrierte: Von der Tanne zum Bienenstock. Vom Bienenstock zur Urne. Alle wanderten hoch zum Grab. Trieb und Treiben in Friedenszeiten. Der Kriegsknick und der Pillenknick. Zeigt her eure Füße. Achtzig, neunzig Jahre Lebenserwartung. Was man vom Leben eben so erwartet. Und am Ende noch so viel Erwartung übrig. Was sollte sie bloß noch machen in all der Zeit? Abwarten und Teetrinken? Warum nicht? Abwarten und Teetrinken. Langweilen würde sie sich nicht. Sie langweilte sich nie. Aber noch einmal was Neues beginnen? Was sollte das sein? Was Neues? Also doch alter Baum. Alt wie ein Baum. Fünfundfünfzig Ringe, verschieden breit. Frühholz und Spätholz. Wechselnde Wuchsbedingungen. Falten statt Maserung. Kein Jahr glich dem anderen. Aber alle gingen vorbei. Umziehen kam jedenfalls nicht in Frage. Nicht mit Wolfgang und seinen Straußen. Jetzt, wo sie endlich brüteten. Lieber sollte Claudia wieder herkommen. War ja lange genug weg gewesen, Auslandserfahrung sammeln, zwölf Jahre schon, eine halbe Ewigkeit. Die Jüngste war sie auch nicht mehr. Könnte langsam mal anfangen mit dem richtigen Leben. Ein Haus bauen, zum Beispiel. Neben den Stallungen war noch Platz, ein stattliches Grundstück mit Blick auf die Polderwiesen. Sie würde täglich bei ihr vorbeigehen, und dann würden sie zusammen auf der Terrasse Kaffee trinken und auf die Wiese schauen. Trank Caudia überhaupt Kaffee? Es war höchste Zeit, dass sie zurückkam.



Im Lehrerzimmer hockten Thiele und Meinhard über ihren Brotdosen. Grüßten mit vollem Mund. Neben dem Vertretungsplan klebte immer noch die bebrillte Lilo. Tapfere Frau, kommunistische Chemikerin, Märtyrerin für die ehemals richtige Sache. Und ein ausgeschnittener Zeitungsartikel mit dem Foto eines dämlich grinsenden Kindes, das den Namen dieser italienischen Stadt an eine Tafel schrieb. Daneben das Kursprogramm der hiesigen Heimvolkshochschule, Schmarotzer im fremden Nest: Grundlagen der Existenzgründung, Pantoffelfilzen, Papierschöpfen, Philosophieren mit Rentnern. Beschäftigungstherapien für Todgeweihte.
    Kattner kam ins Zimmer, grüßte in die Runde und studierte den Vertretungsplan. Farbige Wimpel an einem Holzbrett mit Haken. Ein irres System, für dessen Beherrschung er wöchentlich zwei Abminderungsstunden kassierte.
    »Na, Inge, was wirst du wohl anbieten? Vielleicht Biologie für den Hausgebrauch?« Er tauschte ein paar Stunden auf dem Vertretungsplan. »Einen Kurs übers Pilzesammeln? Oder was zur Bekämpfung von Gartenschädlingen.«
    »Tag, Kattner.« Sollte er doch Volkshochschulwitze machen. So leicht würde sie sich nicht aus der Reserve locken lassen. Ja, sie könnte bleiben. Die Heimvolkshochschule würde das Gebäude übernehmen. Schon nisteten ein paar Kurse in der untersten Etage. Aber nicht mit ihr. Das sollten andere machen. Die Naturwissenschaft taugte nicht zum Hobby. Niemand wollte

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