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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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stinkende Brühe endlich ins Klosett kippten. Die Ergebnisse schrieben sie sowieso beim amtierenden Pferdeschwanz ab.



Wirklichkeitsnäher sollte ihr Unterricht werden, wurde ihr danach empfohlen. Was für ein Schwachsinn! Wirklichkeitsnah war die Biologie doch sowieso. Die Lehre vom Leben, seinen Gesetzmäßigkeiten und Erscheinungsformen, seine Ausbreitung in Zeit und Raum. Eine Beobachtungswissenschaft, die alle Sinne ansprach. Aber das war mal wieder typisch: Erst das Tieretöten für die Sezierstunde verbieten und dann mehr Wirklichkeitsnähe fordern!
    Was jetzt alles nicht mehr erlaubt war. Von wegen Tierversuche. Was sollte daran Quälerei sein? Die Tiere waren doch tot! Studienobjekte. Forschungszwecke. Experimente. Ein befruchtetes Ei vom Rotlicht ausbrüten lassen. Es öffnen, um den Herzschlag zu sehen. Lampe aus. Beweis erbracht. Der Apothekerfrosch, der die Schwangerschaft erkennt. Laichende Weibchen im Frauenurin. Zahnbelag in der Petrischale. Das Zucken der abgetrennten Froschschenkel. Noch nass. Die Muskeln, die sie mit Silber und Eisen berührten. Zwei Metalle, edel und unedel, aus der weit entfernten galvanischen Reihe. Der erbrachte Beweis. Die Nervenbahn war eine Reizleitung. Ein Stromkreis. Chemische Energie konnte in elektrische umgewandelt werden. Die Natur sprach im Versuch. Aber nein: Jetzt durfte man nur noch toten Fischen den Bauch aufschneiden. Doch Heringe stanken schnell. Und Forellen waren teuer. Wenigstens waren Kuhaugen noch erlaubt, aber wegen des Rinderwahns sollte man lieber Schweineaugen verwenden. Sie liebte diesen Moment, wenn die Linse auf das ausgebreitete Zeitungspapier fiel und ein Wort des Artikels vergrößerte. Dann wurde es endlich einmal ruhig. Die Kinder vergaßen ihren Ekel und bestaunten andächtig das Schillern der Netzhaut. Natürlich ging es um Anschaulichkeit. Aber sie konnte nicht jeden Tag mit dem Greifreflex kommen, den regenerationsversessenen Regenwürmern oder den Pawlow’schen Sabberhunden. Dioramen gab es im Naturkundemuseum. Feuchtpräparate, fluoreszierende Knochen und blinkende Knöpfe. Nichts ging über Frontalunterricht. Ihr Unterricht war gut. Ihre Schüler waren gut. Gewiss: Einige hatten Angst vor ihr. Ihre Leistungskontrollen kamen aus heiterem Himmel, aber das hatte sich herumgesprochen, und so waren sie meistens vorbereitet. Was sie lehrte, bestimmte immer noch sie. Und der Lehrplan: das Spiralcurriculum. Vom Einfachen zum Komplexen. Lauter Themen, die in immer komplizierterer Gestalt wiederkehrten. Wie ein Schraubstock, der langsam festgedreht wurde. Was zählte, war das Ergebnis. Und ihre Ergebnisse waren gut. Der Zensurenspiegel lag über dem Landesdurchschnitt. Immer schon. Klar hatte sie Glück gehabt. Biologie und Sport. Dem Leben auf der Spur. Die Naturwissenschaften mussten nicht neu geschrieben werden. Da ging es nicht um meinen und denken. Es wurde beobachtet und untersucht, bestimmt und erklärt! Hypothese, Induktion, Deduktion. Naturgesetze waren international. Thiele und die Bernburgerin hatten ganz schön zu knabbern gehabt an den neuen Daten und Fakten. Ein paar Grenzen weniger, immerhin. Aber die Biologie. Die war Tatsache. Und der Biologieunterricht Tatsachenbericht. Hier wurde Wissen vermittelt, das gesichert war und durch keine Umstellung auf ein anderes politisches System hinfällig wurde. Die Welt ließ sich allein aus sich heraus beschreiben und erklären. Und die Gesetze, der sie unterworfen war, hatten uneingeschränkte Gültigkeit. Darüber gab es nichts abzustimmen. Das war echte Diktatur!
    »Meinhard, wissen Sie, woran man die Martenskinder erkennt?« Kattner beugte sich vor. »An den angenagten Gesichtern.« Der Genuss, mit dem er sich über die Wange strich.
    »Ach, hör doch auf mit den Gruselmärchen.« Dass er es einfach nicht lassen konnte. Dabei war das weit vor seiner Zeit gewesen. So ein Geschichtenschmarotzer.
    »Die wollten auch ein Scheißhaus haben. Damals auf ihrem Gehöft. Haben einfach ein Rohr in den Keller gelegt. Fertig war die Laube. Die Scheißhauslaube. Bis die Ratten kamen. Erst in den Keller, dann die Treppe hoch, ins Kinderzimmer. Und Kinder waren ja genug da …«
    Es gab verschiedene Strategien der Fortpflanzung. Die K-Strategen investierten viel Zeit und Mühe in wenige Nachkommen, die r-Strategen wenig in viele. Ganz einfache Rechnung: Qualität gegen Quantität. Das Ziel war die Erhöhung der Überlebenschance. Es war wie beim Wetten: Entweder setzte man alles auf eine Karte. Oder man

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