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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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streute den Einsatz. Und auch wenn zwei der Martensbälger wirklich hässliche muttermalähnliche Narben davongetragen hatten, so waren sie immerhin noch am Leben. »Wenigstens haben die Kollegen von der Sonderschule noch ein paar Jahre Arbeit.«
    Kattner seufzte. Seine Art, sie ins Vertrauen zu ziehen. Warnung und Tarnung.
    »Ach, Kollegen, wisst ihr noch? Als die verwandten Fächer noch an einem Tisch saßen …« Nun also die Verbrüderungstaktik. Gemeinschaftsduschen. »Alle für sich. Am Fenster die gackernden Kunst-Deutsch-Lehrerinnen, die traurigen Geographen und Historiker weiter vorn, die stinkenden Sportlehrer, die vornehme Mathe-Physik-Fraktion hier vor der Vitrine mit den Pokalen.« Er zeigte auf die Trophäen, stockte. Was für eine Show. »Die könnten wir mal wieder putzen, Lohmark.«
    »Ja, das könnten wir.« Als hätte sie ihm das nicht schon vor den Ferien gesagt.
    »Nun gut. Und jetzt, schaut euch um! Alles leer. Nur noch zwei Tische. Hier die Naturwissenschaft, dort die Geisteswissenschaft. Hier die Fakten, dort die Fiktion. Hier die Realität, dort die Interpretation.« Trommelwirbel und Tusch. »Diese Schule stirbt nicht. Sie konzentriert sich auf das Wesentliche!« Er schlug auf den Tisch und zog die Stirn in Falten. Alle Achtung. Vielleicht glaubte er sogar, was er sagte. »Aber wir reden einfach zu wenig.« Sie waren auch in einer Schule, nicht beim Parteitag. »Das hier ist eine einmalige Chance.« Er war noch längst nicht fertig. Wie bei den wöchentlichen Sitzungen, wo er gern eine Grundsatzdiskussion vom Zaun brach und das dann als demokratische Weiterbildung verkaufen wollte. Immer durfte jeder irgendetwas sagen. Und alle hatten auch noch recht. Friede, Freude, Mutterkuchen. Alles konnte widersprüchlich sein. Und nichts ergab einen Sinn.
    Der Wahrheit war niemand gewachsen: Der Existenz einer einzigen, nachprüfbaren, beweisbaren Wirklichkeit. Erst recht nicht diese Männer, die aus Angst vor dem richtigen Leben gleich ganz auf der Schule geblieben waren und sich hinter verschlossenen Türen vor Halbwüchsigen aufplusterten. Imponierverhalten ewiger Sitzenbleiber. Man musste die Welt nehmen, wie sie war. Nicht wie man sie sich wünschte.
    »Ich versprech euch: Wir werden wettbewerbstauglich. Wir machen diese Schule zukunftsfähig. Gemeinsam. Zusammen mit den Schülern. Wir brauchen mehr Engagement. Auch außerhalb des Unterrichts. Deshalb habe ich beschlossen, dass ich wöchentlich eine Ansprache halte. Motivationstraining. Um den Zusammenhalt zu stärken. Eine Zukunftsrede. Wie findet ihr das? So eine Art Appell. Das kennt ihr doch.«
    Der drehte ja völlig durch. War wohl nicht ausgelastet. Jetzt auch noch Losungen und Klassenziele. Erbauung und Ertüchtigung der Schülerseelen. Der Aufbauhelfer wollte predigen. Die Totenmesse lesen. Das ganze Programm.
    »Wenn du das wirklich wöchentlich machst, dann ist es doch gar nichts Besonderes mehr. Dann sind doch alle sofort übersättigt.« Der Trick hatte schon früher funktioniert.
    »Lohmark, du hast recht. Einmal im Monat. Montag. Nein! Besser mitten in der Woche. Am Mittwoch! In der großen Pause. Am ersten Mittwoch jeden Monats. So machen wir’s.« Er schien zufrieden. Grinste und deutete aufs Brillenporträt.
    »Wer ist noch einmal Lilo Herrmann?« Betont fröhlich.
    »Eine deutsche Arbeiterfaschistin.« Thieles Antwort, ganz trocken, ohne den Blick zu heben. So soll eine Schülerin bei der Prüfung geantwortet haben, vor mehr als zwanzig Jahren. Nicht als Provokation, sondern aus purer Dummheit. Es war Thieles bester Witz. Kattner gab ihn gern zum Besten. Sein Faible für Anekdoten aus dem Land, das er ihnen abgewöhnen sollte. Insgeheim bedauerte er doch, nicht dabei gewesen zu sein. War stolz, wenn die Leute glaubten, er käme von hier.
    Kattner tippte Thiele an.
    »Kamerad, wir müssen demnächst noch mal über dein Politbüro reden. So geht das nicht weiter.«
    Thiele sagte nichts. Kattner ließ ihn los. An der Tür drehte er sich noch einmal um.
    »Also: Sportfrei! Und ein Hoch auf die Frischluft, Kollegin!« Er salutierte und verschwand. Diese Schule war wirklich ein Schiff, das unterging. Rudern war längst überflüssig. Alle verteidigten nur den eigenen Lebenslauf. Was blieb einem auch anderes übrig, als der zufälligen, zwangsläufigen Abfolge der Ereignisse irgendeinen Sinn zuzuschreiben? Die Heirat, die unvermeidliche Geburt des ersten Kindes, die beinahe zwangsläufige des zweiten. Thiele als stramme Rothaut hatte

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