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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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das mit flachen Wurzeln jeden unbebauten Quadratzentimeter Boden besetzte. Das alte Ackerkraut, das sich von den Feldrändern vorgearbeitet hatte bis hierher, auf den Marktplatz, ins Zentrum der Stadt. Aus Pflasterritzen quoll der knechtische Vogelknöterich. Ganz zu schweigen vom Gemeinen Löwenzahn, der Allerweltsblume, die mit strotzender Potenz jede Straßenecke markierte. Die wilde Vegetation war überall. Die filzigen, weißen Blätter des gemeinen Beifußes. Der Krautteppich der Vogelmiere. Der unausrottbare Gänsefuß. Ein erstaunlicher Artenreichtum. Vor allem in der Steinstraße, wo sich Bauruinen mit leergezogenen Altbauten abwechselten. Häuser in ganz unterschiedlichen Stadien des Verfalls. Halt. Hatte die Bernburg hier nicht mal gewohnt? Die Klingel war rausgerissen, die Schilder nicht zu entziffern. Die Tür offen. Aus dem Keller drang kühle Luft. Im Hof blühte sogar eine Sandstrohblume. Hoch aufgeschossene Schafgarbe an einer Halde mit Bauschutt. Die falschen Ähren der Mäusegerste mit langen Grannen. Unkraut verging nicht.
    Hier überlebte nur, was wucherte. Fern von den gepflegten Zierbeeten, gehätschelten Kleingärten und anderen mühsam eingerichteten Sekundärbiotopen. Die strahlenlose Kamille, das trittfeste Mastkraut, die hinterlistige Quecke, das herzergreifende Hirtentäschel – hartnäckiges Wildkraut, störrischer Wuchs. Es war die Fortpflanzung, die das Bestehen sicherte. Komplizierte Bestäubungsaktionen hatten hier keinen Erfolg. Es musste schnell gehen. Noch ehe Schadstoffe ihm etwas anhaben konnten, hatte sich das Unkraut schon vermehrt. Die klebrigen Samen des zähblättrigen Breitwegerichs hefteten sich an jede Sohle. Der Wurmfarn schleuderte seine winzigen Sporen hinaus. Die Pusteblume ließ Fallschirme segeln. Vom Wind weggetragene Samen. Das Hirtentäschel konnte sich im Notfall sogar selbst bestäuben. Ortswechsel waren bei den Pflanzen selbst allerdings nicht vorgesehen. Es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als hierzubleiben. Und sie machten das Beste daraus. Unterwanderten frei gewordene Flächen, besetzten ungenutzte Zwischenräume, keimten in den Ritzen der Gehwegplatten, in den Rissen der Gemäuer, wurzelten in der schmutzigen Erde der Schutthalden, gruben sich in die verschütteten Reste früherer Bebauung. Lehm, Zement, Mörtel. Das machte ihnen nichts aus. Im Gegenteil. Selbst die trockenste, kalkreiche Erde war Nährboden genug für die hartgesottenen Vertreter der grünen Front.



Die Sprosspflanzen wurden einfach unterschätzt. Während ihrer Studienzeit hatte sie sich auch nicht für das Grünzeug erwärmen können. Servile Werktätige der Photosynthese-Fabrik. In unzähligen Übungen zu bestimmen. Immer ging es ums Zählen. Wie viel Blätter sie hatten, wie viel Staubgefäße. Nacktsprosser und Schachtelhalme, Bärlappe und Farne, Nackt- und Bedecktsamer, Zweikeimblättrige und Einkeimblättrige. Schmetterlingsblüten und Kreuzblüten, Lippenblüten und Korbblüten. Wechselständig, grundständig, kreuzgegenständig. Frucht. Futter, Heilmittel, Zier. Die einzelnen Organe der Photosynthese. Zufuhr des großen Kreislaufs, Motor des Stoffwechsels. Pflanzen verwandelten energiearme Stoffe in energiereiche. Bei den Tieren war es andersrum. Wir waren einfach nicht autotroph. In jedem kleinen Blatt, in jedem winzigen Chloroplast passierte Tag für Tag das Wunder, das uns alle am Leben hielt. Epidermis, Cuticula, Palisadengewebe. Wäre man grün, bräuchte man nicht mehr zu essen, nicht mehr einzukaufen, nicht mehr zu arbeiten. Man bräuchte überhaupt gar nichts mehr tun. Es genügte, sich ein wenig in die Sonne zu legen, Wasser zu trinken, Kohlendioxid aufzunehmen, und alles, aber auch alles, wäre geregelt. Chloroplasten unter der Haut. Es wäre wunderbar!
    Die stumme, geduldige Vegetation. Alle Achtung. Sie konnten ohne Sprache kommunizieren und waren ohne Nervensystem schmerzempfindlich. Angeblich hatten sie sogar Gefühle. Das wäre allerdings kein Fortschritt. Vielleicht waren sie uns ja gerade deswegen überlegen, weil sie ohne Gefühle auskamen. Einige Pflanzen hatten mehr Gene als der Mensch. Die vielversprechendste Strategie, an die Macht zu kommen, war immer noch, unterschätzt zu werden. Um dann, im richtigen Moment, zuzuschlagen. Es war nicht zu übersehen, dass die Flora auf der Lauer lag. In Gräben, Gärten und Gewächshauskasernen warteten sie auf ihren Einsatz. Schon bald würde sie sich alles zurückholen. Die missbrauchten Territorien mit

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