Der Hals der Giraffe
sauerstoffproduzierenden Fangarmen wieder in Besitz nehmen, der Witterung trotzen, mit ihren Wurzeln Asphalt und Beton sprengen. Die Überreste der vergangenen Zivilisation unter einer geschlossenen Krautdecke begraben. Die Rückgabe an die Alt-Eigentümer war nur eine Frage der Zeit.
Stickstoffhungrige Brennnesseln, die sich an der grusigen Erde labten, wo schon bald die verholzten Triebe der Waldrebe ein undurchdringliches Dickicht bilden würden. Der Boden vom Farn bedeckt. Mit gespreizten Blättern. Halb frisch, halb verfault. Pilze, Flechten und Moose, die selbst auf Asphalt gediehen. Gespornt für die Ewigkeit. Ein Mantel des Schweigens. Alles trug schon den Samen zukünftiger Natur in sich, zukünftiger Landschaft, zukünftigen Walds. Angelegte Grünflächen? Mühsames Aufforsten? Hier war eine größere Macht am Werk! Niemand konnte sie aufhalten. Irgendwann, schon in ein paar Jahrhunderten, würde hier ein stattlicher Mischwald stehen. Und von allen Gebäuden würde höchstens die Kirche übrig sein, ausgehöhlt, ein Gerippe aus Backstein, eine Ruine im Wald, wie auf einem Gemälde. Herrlich. Man mußte größer, weiter denken, über das mickrige menschliche Maß hinaus. Was war schon Zeit? Die Pest, der Dreißigjährige Krieg, die Menschwerdung, das erste Feuer in den Höhlen der Hominiden? All das lag doch nur einen Wimpernschlag zurück. Der Mensch war ein flüchtiges Vorkommnis auf Proteinbasis. Ein zugegeben recht erstaunliches Tier, das diesen Planeten für kurze Zeit befallen hatte und schließlich, genau wie ein paar andere wundersame Wesen, wieder verschwinden würde. Von Würmern, Pilzen und Mikroben zersetzt. Oder unter einer dicken Sedimentschicht begraben. Ein lustiges Fossil. Von niemandem mehr ausgegraben. Die Pflanzen aber blieben. Sie waren vor uns da, und sie würden uns überleben. Noch war dieser Ort nur eine schrumpfende Stadt, die Produktion längst eingestellt, aber die wahren Produzenten waren schon am Werk. Nicht der Verfall würde diesen Ort heimsuchen, sondern die totale Verwilderung. Eine wuchernde Eingemeindung, eine friedliche Revolution. Blühende Landschaften.
Der Bus musste bald kommen. An der Haltestelle hatten sich schon die Fahrschüler zusammengerottet. Auch ein paar aus ihrer Klasse waren dabei: Kevin, Paul, der Dicke und die zwei Grazien von der Eselsbank. Sie hatten das Opfertier Ellen im Visier. Es galt das Faustrecht. Wenn sie so mutlos schaute, brauchte sie sich nicht zu wundern. Es gehörten immer zwei dazu. Sie hörte schon die Jammereien: Frau Lohmark! Frau Lohmark! Aber da war sie bei ihr an der falschen Adresse. Zum Opfer machte man sich immer nur selbst. Mitleid brauchte sechs Minuten, und so lange wollte Lohmark nicht warten. Außerdem redete sie grundsätzlich nicht außerhalb des Unterrichts mit Schülern. Mittags trennten sich ihre Wege. Das hier war nicht mehr ihr Revier.
Etwas abseits stand Erika, den Rucksack zwischen den Füßen, das rechte Bein angewinkelt, eine Schulter höher als die andere, das Gesicht unsymmetrisch wie ein Ulmenblatt. Von der Seite konnte man sie fast für einen Jungen halten. Sie trug eine dünne, zerknitterte Regenjacke, marineblau. Aus den weißen Bündchen schauten zarte Handgelenke. Die linke Hand eine halboffene Faust. Kreisende Kastanien. Sie schaute sehr ruhig auf irgendwas auf der anderen Straßenseite. Aber die Gedenktafel über der Eingangstür konnte sie von hier aus unmöglich lesen. War ja auch unwichtig. Das Kinn sah energisch aus. Auf der Wange ein weißer Fleck. Ein Storchenbiss. Woher hatte sie den? Ein Unfall bei der Geburt. Eine abgerutschte Zange. Eine schlecht verheilte Narbe. Was kümmerte sie das? Sie könnte ihre Tochter sein. Ach was. Ihre Enkelin. Woher kam jetzt dieser blödsinnige Gedanke? Wie hatte Kattner das nur angestellt? Süßholzraspeln. Wie hatte er wohl das Mädchen rumgekriegt? Sie könnte wirklich ihre Enkelin sein. Schließlich hatte sie ja eine Tochter. Manchmal vergaß sie schon, dass sie überhaupt ein Kind hatte. Was um Himmels willen wollte Claudia dort? Sie würde es nie verstehen. Sowas war auch nicht zu verstehen. Zuerst war es ihr nur um einen Abschluss gegangen, dann um eine Reise, schließlich um einen Mann und dann um einen Job. Erst verschwand der Mann, dann der Job und über die Jahre auch alle anderen Gründe. Claudia reagierte schon lange nicht mehr, wenn Inge Lohmark nachfragte. Und irgendwann hatte sie aufgehört zu fragen, um die seltenen Telefongespräche nicht noch
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