Der Hals der Giraffe
mehr geworden auf diesem Planeten. Nur eben hier war davon nichts zu merken.
Wie diese Geisterstadt in der Mojave-Wüste, die sie besichtigt hatten. In der sengenden Mittagssonne eines besonders heißen, kalifornischen Sommertags. Sogar Eintritt hatten sie bezahlt. Das einzige Mal, dass sie und Wolfgang drüben waren, um Claudia zu besuchen. Bestimmt zehn Jahre her. Damals hieß es noch, dass sie bald wiederkommen werde, dass sie nur noch diesen einen Kurs beenden und vorher ihren Eltern zeigen wolle, wo sie das letzte Jahr gelebt hatte. Sie hatten es wirklich geglaubt. Sie alle.
Am Eingangstor eine Tafel mit den Einwohnerzahlen. Von der Gründung bis zum Ende. Von einigen Hundert bis Null. Eine emaillierte Waschschüssel in dem winzigen Museum, so aufgebahrt, als handelte es sich um einen Fund aus der Grube Messel. Ein Faltblatt mit Lebensläufen der einstigen Stadtbewohner in aberwitzigem Deutsch. Kaum verständliche Satzfragmente. Europäer, die in Trecks hierhergekommen waren. Oder allein. Die Heimat hatten sie verlassen für die Aussicht auf ein paar Klumpen Edelmetall. Harte Arbeit in den Stollen, in denen andere bereits Gold, Silber, Kupfer oder Borax gefunden hatten. Nichts war so gefährlich wie das Verlassen des natürlichen Lebensraums. Dass der Mensch nicht einmal vor der Wüste haltmachte! Seine Toleranzkurve war wirklich beachtlich. Er konnte beinahe überall überleben. Und musste das geradezu zwanghaft immer wieder unter Beweis stellen. Protzen mit der ökologischen Potenz. Die Ameisen brauchten Tausende von Arten, um die ganze Welt zu besiedeln, der Mensch schaffte das mit einer Handvoll Varietäten.
Ein wenig abseits stand die Schule. Ein Fachwerkhäuschen, das man nach einem Brand aus unerfindlichen Gründen im halben Maßstab nachgebaut hatte. Das Innere wie eine zu groß geratene Puppenstube. Über der Tafel eine Weltkarte. In der Mitte Amerika. Eurasien getrennt, an den Rand gedrängt. Ein Teil links, ein Teil rechts. Grönland war riesig. Ein weißes Land, so groß wie Afrika. An den Wänden Aushänge mit den umfangreichen Vorschriften für die Lehrerinnen: Nicht rauchen. Kein Eis essen. Mindestens zwei Unterröcke tragen. Als sie wieder raustrat, ins Helle, sah sie all die Notstromaggregate, die diese Wüstenkulisse mit Elektrizität versorgten, überall Souvenirbuden und Edelsteinlädchen. Auch wenn die Holzpflöcke, an denen einmal Pferde festgebunden worden waren, noch standen, auch wenn sich hinter der Geisterstadt noch die Grubeneingänge der alten Silbermine wie Mäuselöcher in die Steinwüste fraßen, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass hier einmal wirkliche Menschen gelebt hatten, deren Überreste nun unter den Geröllhaufen des Friedhofs begraben liegen sollten. All das konnte doch nur eine Attrappe sein, eine Dorfattrappe inmitten einer vom Gebirgspanorama eingerahmten, staubigen Steinwüste. Und dafür hatte sie auch noch Geld gezahlt. Nein, Geschichte war wirklich nicht ihr Fach. Und Naturgeschichte schien hier keine große Rolle zu spielen. Die Wüste mochte geologisch interessant und ein wichtiger Lebensraum für eine Handvoll Tiere und Pflanzen sein. Aber die völlige Abwesenheit von Chlorophyll war zutiefst verstörend.
Auch diese Stadt hier würde sich von der Populationsschwankung nicht mehr erholen. Und niemand würde später für ihre Besichtigung Geld bezahlen. Eine Stadt im vor-pommerschen Hinterland, die außer dem Sitz der Kreisverwaltung nichts mehr zu bieten hatte. Am schmalen Fluss ein Hafen für Schrott und Schuttgüter, eine Zuckerfabrik und ein Museum. Der Markt ein Parkplatz. Ein, zwei historische Straßenzeilen. Die turmlose Kirche ein riesiges Rudiment der Backsteingotik. Das Zentrum selbst voller Neubauten, WBS -Siebzig, einfachste Ausführung, ohne Spaltklinker oder Kieselsteine im Waschbeton. Erst waren sie saniert worden. Jetzt standen sie zum größten Teil leer. Die neue Autobahn vor der Tür, nur eine halbe Stunde weit weg. Dreißig Kilometer entfernt machte sie einen scharfen Knick nach Westen. Aber wenigstens wuchs hier was: Ein Bataillon Stiefmütterchen vor der Einkaufspassage. Veilchenfußvolk, neueste Aufhübschungsmaßnahme der Beschäftigungstherapierten. Gemeiner Efeu, der sich an den Balkonen der aufgetakelten Neubaufassaden verfing. Und es gab eine Unmenge von Pflanzen, die ihren Weg ohne menschliches Zutun in diese Siedlung gefunden hatten. Sie gediehen prächtig und beinahe unbemerkt: das einjährige Rispengras,
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