Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
Vom Netzwerk:
seltener werden zu lassen. Ab und an kam eine E-Mail. Kurze Lebenszeichen. Viele Grüße. Keine Nachrichten. Erst recht keine Antworten. Es sah schlecht aus mit Enkelkindern. Claudia war schon fünfunddreißig. Der Eisprung fand nicht mehr regelmäßig statt.
    Mittlerweile hatten sie Ellen eingekreist. Kevin als Rudelführer. Der Dicke grinste breit und war froh, auch mal mitmischen zu dürfen. Sie schubsten sie ein wenig hin und her, nahmen ihr den Haarreif weg. Eigentlich waren sie ja für solche Kindereien zu alt. Pure Langeweile. Sie war so blöd mitzuspielen und rannte ihnen hinterher. Der Haarreif im Dreck. Ellen, die sich bückte. Kevin, der sie schubste. Konnte jetzt nicht endlich mal der Bus kommen? Wenn die so weitermachten, musste sie doch noch einschreiten. Ellen wimmerte, schloss die Augen und warf den Kopf in den Nacken. Die Kahnstellung. Aber die Beißhemmung gab es beim Menschen nicht.
    Was für ein merkwürdiges Ohr Erika hatte. Eckige Wölbung. Ausgeprägter Knorpel. Seltsames Gebilde. Weißer Flaum auf den kräftigen Läppchen.
    Erika dreht den Kopf und schaute sie an. Fast entrüstet. Was war denn mit der los? Was wollte die denn? Dieser stechende Blick. Dieser überlegene Ausdruck. Warum starrte sie so unerhört lange?
    Endlich kam der Bus. Alle drängelten sich nach vorn. Erika ließ die Kastanien fallen und stieg gleichmütig ein. Wie eingebildet dieses Mädchen war. Inge Lohmark achtete darauf, die Letzte zu sein.
    Nach ein paar Minuten hatten sie die Innenstadt verlassen und fuhren durch die Vorstadt. Vorbei an aufgegebenen Gewerbeflächen, Garagenbauten unter Flachdächern, der Kleingartenkolonie und den großen Parkplätzen der Einkaufsmärkte. Bald waren sie auf der Chaussee ins Hinterland. Ein großes Schild am Straßenrand: Kein Ort zum Sterben. Holzkreuze und verdreckte Kuscheltiere im Straßengraben erzählten was anderes.
    Rechts der gescheiterte Versuch, aus einem alten Eisenbahnwaggon einen amerikanischen Schnellimbiss zu machen. Auf der linken Seite der alte Gutshof, den ein paar Zugezogene bewirtschafteten. Die Großstädter konnten es einfach nicht lassen. Sahen nicht ein, dass sie diese Gegend nur künstlich am Leben hielten, mit ihrer importierten Begeisterung für die störrische Weite und die unverputzten Häuser, sogar für die Maulfaulheit der Eingeborenen. Sie versuchten es ein paar Jahre, beschwerten sich, dass sie nicht dazugehörten, bis ihnen irgendwann dämmerte, dass sie deshalb niemals dazugehören würden, weil es hier so etwas wie Zugehörigkeit und Gemeinschaft nicht mehr gab. Auch mit Biomilch und Kulturzentren ließen sie sich nicht erkaufen. Dies war kein Ort zum Sterben. Aber auch keiner zum Leben. Jeder machte seins. Die Beatmungsgeräte gehörten abgestellt. Fortschritt der Medizin. Würde sie wollen, dass man sie künstlich am Leben hielt? Wie ihre Mutter, nachdem man ihr die Gebärmutter samt Eierstöcken entnommen hatte. Vorsorglich. Aber da war nichts mehr mit Vorsorge. Geräusche wie ein Zimmerspringbrunnen. Gurgelnde Maschinen. Fiepende Monitore. Alle Viertelstunde wurde der Puls gemessen. Die Scheiße lief direkt in den Beutel. Das war praktisch. Händestreicheln wie im Fernsehen. Irgendwas musste man ja tun. Vielleicht sollte sie auch mal so einen Wisch unterschreiben, so eine Willenserklärung. Wie hieß das noch gleich? Der Bus bog von der Hauptstraße ab und fuhr die Schlaufe durch die drei Dörfer. An einem Plattenweg aufgereihte Perlen. Aber alles andere als Schmuckstücke. Entgegenkommende Autos wurden in Straßenbuchten gezwungen. Ja, richtig: Patientenverfügung. Sowas würde sie machen. Hätte sie schon längst tun sollen. Man konnte nie wissen. In ihrem Alter. Nichts war sicher. Sicher war nichts.
    Eigenartig, diese kleine Mulde in Erikas Nacken zwischen den abfallenden Schultern. Das unordentliche Haar. Wirbelhöcker über der hängenden Kapuze. Knochen unter heller Haut. Darauf das feine Gespinst der Blätterschatten: Feine Striemen wechselten sich mit kräuselnden Wolken ab. Jetzt erhob sie sich. Warum stand sie auf? Richtig, der Bus hielt ja. Es war das letzte der drei Gehöfte, ein paar Häuser am Waldrand. Immerhin alle bewohnt. Zumindest sah es so aus. Hühner hinterm Bretterzaun. Vorsicht, bissiger Hund. In welchem sie wohl wohnte? Hatte sie Geschwister? War sie von hier? Sie war die Einzige, die ausstieg. Ganz langsam ging sie die Straße hinunter. Der Rucksack hing auf einer Schulter. Haltungsschäden vorprogrammiert. Und schon

Weitere Kostenlose Bücher