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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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fuhr der Bus weiter. Eine Kurve. Sie war nicht mehr zu sehen.
    Auf der Fensterscheibe krabbelte ein junges Heupferd, das seine grün leuchtenden Flügel ausbreitete. Hin und her, auf der Suche nach einem Ausweg.
    Sie war seit Jahren nicht mehr mit dem Schulbus gefahren. Von hier oben sah alles anders aus, fast schön: Die Linden der Allee, die sich von ausgefransten Asphalträndern zur Straßenmitte neigten. Brachen mit Maulwurfhügeln. Verrohrte Gräben, Baumkronen voller Mistelnester. Auf den Feuchtwiesen graue Birken, die das letzte Hochwasser nicht überlebt hatten. Löchriger Maschendraht vor ausgehöhlten Stallungen und Wellblechschuppen. Ein schrankenloser Bahnübergang, frisches Gleisbett für alte Schienen. Auf einer Weide standen Holsteinrinder in schwarzer aufgewühlter Erde. In der Ferne glänzten Silos. Ein paar Möwen hielten den Acker für das Meer. Ab und an führte ein geteerter Weg zu einem abgelegenen Gehöft über fruchtwechselnde Felder. Pfützen in wulstigen Traktorspuren, Berge aus Autoreifen, alte Jauchegruben, verwahrloste Halden. Eine unaufgeräumte Landschaft, maschinell bearbeitet, ein Mosaik der Monokulturen. Bodenlockerung. Wasserregulierung. Nährstoffzufuhr. Futterpflanzen und Nutztiere. Zuchterfolge und Pflanzenbau. Die verordnete Vergesellschaftung der Organismen zur Steigerung des Ertragswertes. Es gab keine Natur mehr. Die Landschaft war längst kultiviert. Die hochgeschossenen Pappeln am Dorfsportplatz. Der Teich mit Buchsbäumen. Kopfsteinpflaster. Willkommen zuhaus. Der Bus hielt.
    Vorm Wartehäuschen wie gewöhnlich ein paar Halbwüchsige, die ihre Zeit totschlugen. Pöbeln, Rauchen, Saufen. Kein Wunder, dass es keiner von denen aufs Darwin geschafft hatte. In ihren Unterricht. Der Asphalt voller Spuckepfützchen. Jungs in diesem Alter hatten offenbar eine besondere Beziehung zu ihrem Speichel. Hauptsache Körpersaft.
    In der Kaufhalle saß neuerdings ein Umzugsunternehmen. Deutschlandweit! Das Wort stand in Klebebuchstaben an der Schaufensterscheibe. Mit Ausrufezeichen. Auf dem Parkplatz die leuchtgelben Lastwagen, jeder so groß, dass ein ganzer Hausstand hineinpasste. Ein Leben in einem Lastwagen. Heute konnte man problemlos alles mitnehmen. Aber wohin? Sie würde hierbleiben.
    Hinter Maschendraht das Grundstück, auf dem früher das Gutshaus gestanden hatte, und die Scheune, die abbrannte, genau ein Jahr nachdem ein Hautarzt aus dem Sauerland sie teuer saniert hatte. Am Sportplatz die kleine Bühne für Feierlichkeiten und Siegerehrungen. Rote Fahnen. Fliedergeruch. Bockwurst und Bier. Die Bürgermeisterin, die eine Ansprache hielt. Ihr riesiger Busen hinter der Urkunde. Fester Händedruck. Bei dem Vorbau war eine Umarmung sowieso nicht möglich. Der starke Nachwuchs. Kinder wie Heu. Fußballspiel und Brigade-Abend. Ein paar Orden für die Erwachsenen, ein paar Abzeichen für die Kinder. Verdiente Aktivisten der Arbeit. Die goldene Hausnummer für eine frisch gekalkte Fassade. Alle raus zum Ersten Mai! Einen Winter lang hatte Claudia mit der Tochter der Bürgermeisterin gespielt, einem blassen, stillen Mädchen. Bis Claudia ihr beim Iglubau mit einem Eisbrocken den Mittelhandknochen zertrümmerte. Im Schlafzimmer hingen lauter Fotos von großbusigen Frauen, hatte Claudia berichtet. Eigentlich erstaunlich, dass sie ihr sowas überhaupt erzählt hatte! Der Ehemann der Bürgermeisterin war ein Trockenwerksfahrer, ein Schrank von einem Mann. Dass die Bürgermeisterin gleich mit dem Röntgenbild anrücken musste. Dabei war die Hand nur angebrochen. Sowas konnte beim Spielen schon mal vorkommen. Damals wohnten sie noch in dem Neubau. Zweieinhalb Zimmer mit Ofenheizung. Und da, neben der kleinen Bühne, hatte doch die Sirene gestanden. Einmal in der Woche ging sie los, kurz nach dem Mittagsschlaf. Trotz Gewöhnung immer wieder ein Schock. Das lang gezogene Jaulen. Jeden Sonnabend um zwölf. Jedes Mal das Erschrecken und das ungute Gefühl, dass Frieden herrschte. Frieden, der nicht selbstverständlich war. Angesichts eines Krieges, einer Gefahr, die immer wieder beschworen wurde. Und dann war es doch nur eine Übung. Für den Fall der Fälle. Bist du etwa nicht für den Frieden? Irgendwann in den Neunzigern war sie abmontiert worden. Und das Gefühl verschwunden, da zu sein: hier und jetzt. Am Leben. Wieder eine Woche rum.
    Das Dorf hatte sich aufgeteilt. Die Verbliebenen besetzten den Kern, die Zugezogenen siedelten am Feldrand. Dort stand auch ihr Haus. Es verdiente kaum die

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