Der Hals der Giraffe
lauter Angst. Einen Moment lang zuckte es, dann faltete es seine Flügel zusammen und erstarrte. Es sah aus wie tot. Ausgestopft. Sehr zerbrechlich: Braunes, dichtes Mäusefell. Kleine, krumme Zehenkrallen. Ledrige Flügelspitzen. Die feine Flugmembran. Hervorstehende rote Gelenke. Die schwarzen Widerhaken der gereckten Daumen. Der platte Kopf. Eine nass glänzende Schnauze. Winzige Vampirzähne. Der entsetzte Mund eines Neugeborenen. Harte ängstliche Augen. So viel Angst. Sie waren eher mit den Menschen verwandt als mit den Mäusen. Der gleiche Knochensatz: Oberarm, Speiche, Elle und Handwurzel. In den trichterförmigen Ohren der gleiche Knorpel. Dazu anatomisch identische Geschlechtsorgane. Ein Paar brustständige Zitzen. Freihängender Penis. Pro Jahr ein oder zwei Junge. Und bei der Geburt waren auch sie fast vollständig nackt.
Kurz hatte sie noch überlegt, ob sie die Fledermaus im Unterricht einsetzen könnte. Der neuen Klasse gleich einen typischen Kulturfolger präsentieren. Das kleinste aller Säugetiere. Aber dann wollte sie das Vieh nur so schnell wie möglich loswerden. Sie öffnete das Fenster. Und dann das Glas. Ganz langsam kroch das Tier heraus, fiel erst ein Stück, dann fing es sich, breitete die Flügel aus und verschwand im Dunkel, irgendwohin Richtung Garage. Schnell schloss sie das Fenster und legte sich wieder hin. Erst als es hell wurde, schlief sie endlich ein.
Auf dem Flur gackerten die Mädchen. Also los. Sie raffte sich auf, zog sich an und ging hinaus, um sie auf dem Schulhof antreten zu lassen.
»Stillgestanden!«
Die Linie war wellig.
»Brust raus, Po rein!«
Zwei Mädchen mussten miteinander tauschen, ehe die abfallende Reihe wieder stimmte und sie ordentlich dastanden, der Größe nach geordnet. Übersicht war alles.
»Sport frei! Drei Runden zum Aufwärmen – ohne Abkürzungen! Sie wissen, ich habe meine Augen überall.«
Es tat gut, draußen zu sein.
»Hopp. Hopp.«
Die Mädchen liefen los, schoben ihre jungen, aber schon lahmen Körper über den Hof und verschwanden hinter dem Hauptgebäude Richtung Stadtwall.
Kaum zu glauben, dass ausgerechnet die sich im evolutionären Wettkampf durchgesetzt haben sollten. Die Auslese war wirklich blind. Sie war zwar mehr als dreimal so alt wie diese Memmen, aber ihre Kondition war um Längen besser. Sie würde haushoch gegen sie gewinnen. Es fehlte ihnen jegliche Grundspannung. Plumpe Motorik. Wackelnde Fettpolster. Kein Blumentopf war mit denen zu gewinnen. Es kamen aber auch keine Kader mehr, die sich das eine oder andere Pferdchen aus Lohmarks Stall geholt hätten. Früher war das anders. Die Ehrentafel hing noch immer im Eingangsbereich der Sporthalle. Darauf hatte sie bestanden. Damit alle sahen, was Rekorde waren: Vergilbte Zahlen. Die Sportfeste damals: Spikes unter den über die Grenze geschmuggelten Laufschuhen. Die frisch geweißten Linien auf der roten Aschebahn. Lautsprecherstimmen. Auf die Plätze. In die Startblöcke. Fertig. Muskeln angespannt. Schuss. Der Start war alles. Gold, Silber, Kupfer. Glänzende Pappe an roten Geschenkbändern. Wie viele sie davon zu Hause hatte. Eine Schublade voll. Sehnige Kinderkörper, die sich dem Zielstrich entgegenstreckten und dann vornüberstürzend über die Linie stolperten, wie sie es im Fernsehen gesehen hatten. Damals hatte sie eine ganze Reihe von Siegern der Kreisspartakiade und sogar einen Gewinner der Bezirksspartakiade hervorgebracht. Immer den Blick dafür, wer für was taugte, jenseits der Sportweisheiten. Stabhochspringer und Turner mussten klein sein, Basketballer hingegen übergroß, und ein ordentlicher Schwimmer konnte nur werden, wer ausladende Arme und überdimensionierte Füße hatte. Das war das eine. Sie sah aber sofort, wer willig war, all seine Interessen einem strikten Trainingsplan unterzuordnen. Wer über genug Demut und Disziplin verfügte, um sich irgendwann im Wettkampf durchzusetzen. Bis dahin konnten schließlich Jahre vergehen. Es ging darum, diffuse Neigungen in zweckmäßige Bahnen zu lenken. Talente in Sieger zu verwandeln. Heute konnte man schon froh sein, wenn man den Mädchen abgewöhnte, sich wegen ihrer Regelblutung krankzumelden. Dass sie sich überhaupt noch trauten, Weltmeisterschaften auszurichten, wo doch so viele Talente unerkannt blieben. Aber es zählte ja nur das Ergebnis, nicht das Potenzial.
Die Ersten trudelten mit roten Wangen wieder auf dem Schulhof ein.
Regen setzte ein, zögernd und lautlos. Sofort machten sie
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