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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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Protestgesichter. Keine Diskussion. Kurze Erinnerung an den Segen der Abhärtung. Anlauf und ab in den klammen Sand. Einige der Grazien beschwerten sich über ein paar Blätter auf der kurzen Bahn. Als gelte es, olympisches Gold zu erobern. Um dann, als die Bahn endlich frei war, loszutraben, lustlos, ohne das geringste Anzeichen von Anstrengung. Wie nasse Säcke ließen sie sich in den Sand plumpsen. Das also war die Zukunft. Vom Fitnesswahn keine Spur. Das waren die Mütter zukünftiger Generationen. Zumindest theoretisch. Nur weil sie noch alles vor sich hatten, konnten sie sich so gehenlassen.
    Noch acht Wochen bis zu den Herbstferien. Mehrmals drehte sie den Schlüssel im Zündschloss. Der Wagen gab nur ein heiseres Röcheln von sich. Sie stieg aus, öffnete die Motorhaube, aber dort war auch nichts Augenscheinliches zu entdecken. Wolfgang meinte sowieso, dass sie ein neues Auto brauchte. Brauchte sie nicht. Es musste die Batterie sein. Das war schon ein paar Mal passiert. Und das am ersten Tag. Nun gut. Dann also mit dem Bus. Sie ließ den Wagen stehen und ging zur Haltestelle. Drei Zahlenkolonnen auf dem Plan. Mittags. Nachmittags. Abends. Der Einser. Der Vierer und der Sechser. Danach war Schluss. Bis zur Abfahrt des Ein-Uhr-Busses blieb noch Zeit.
    Sie nahm den Trampelpfad über das krautige Rasenstück hinter der Sporthalle bis hoch auf den Wall und ging ein Stück unter den Kastanien an der abgebrochenen Festungsmauer entlang. Die verwitterten Backsteine schimmerten feucht, und auf dem nassen Boden streckten die vom Regen aufgeblähten Blätter fiedrige Finger in die Höhe. In den Pfützen lagen die stacheligen Früchte, aufgeplatzt. Verdunstung und Niederschlag. Der natürliche Kreislauf. Wasser auf dem Weg ins Meer.
    Es war nicht einfach, auszumachen, welche der Stadthäuser am Ring noch bewohnt waren. Alle mit Blick ins Grüne, auf den Wall. Und auf den Stadtgraben, einen namenlosen, stinkenden Wasserlauf. Lücken in der Häuserreihe. Beschmierte Gründerzeitbauten neben halb verputzten Fassaden. Mit Spanplatten vernagelte Fensterlöcher. Der Abdruck eines abgerissenen Hauses in einer Brandmauer. Weit verzweigte Risse. Adern im blätternden Putz. Die Wände voller Parolen: Reichtum für alle. Wessis aufs Maul. Ausländer raus.
    Nur das Tor aus backsteingotischer Vorzeit trotzte dem Verfall. Das hatte ja auch den Dreißigjährigen Krieg überstanden. Aber das hier war kein Krieg mehr. Das war schon Kapitulation. Auf der Hohen Straße kam ihr eine Frau entgegen. Älter als sie. Kugeliger Bauch. Wächsernes Gesicht. Das zigarettengelbe Haar zum Dutt geknotet. Unterm Arm einen großen quadratischen Umschlag mit Röntgenaufnahmen. Die gehörte zu denen, die ihre Unterwäsche nur deshalb wechselten, weil sie Angst hatten, ins Krankenhaus zu kommen. Ein Unfall. Man konnte nie wissen. In ihrem Alter. Sie schaute durchdringend, fast fordernd. Nur nicht darauf eingehen. Keine Miene. Schreiadlerblick. Und wenn sie beide die letzten Menschen auf der Erde wären, würde Lohmark sie nicht grüßen. Was ging sie fremdes Elend an? Sollte die Alte ihr Nähebedürfnis doch woanders befriedigen.
    Auf dem Markt vor dem Rathaus wie gewöhnlich ein paar Freizeittrinker. Der letzte Rest Verstand musste doch auch noch wegzusaufen sein. Einer stand auf dem kleinen Rasenstück und pinkelte gegen einen Strauch. Der alte Kindertrick: Wen ich nicht sehe, der sieht mich nicht. Das Sichtfeld schnurrte zusammen auf Reichweite eines Urinstrahls. Der freihängende Penis, ein Primat der Primaten. Schon beeindruckend, mit welcher konzentrierten Beiläufigkeit dieses Geschäft verrichtet wurde. Schamlose Selbstverständlichkeit. Frei wie ein Tier. Ein größeres Geschlecht als Kompensation für den verlorengegangenen Schwanz. Bestimmt waren Männer traurig, dass sie ihr Geschlecht nicht wie Hunde lecken konnten. Dafür konnten sie sich wenigstens mit beiden Händen daran festhalten. Ein Leben lang zu zweit. Die Ungleichheit der Geschlechter. Da fehlte eben das zweite X-Chromosom. Das war nicht zu kompensieren. Ungeniert umständlich knöpfte er die Hose zu und wankte zurück zu seiner Flasche. Kein Pegeltrinker. Eher Quartalssäufer. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
    Ansonsten dämmerte die Stadt, oder vielmehr das, was von ihr übrig geblieben war, in ihrem Mittagsschlaf, still und unwirklich, wie alles von Menschen Zurückgelassene. Früher warnte man gern vor den Gefahren der Überbevölkerung. Seitdem waren es bestimmt ein paar Milliarden

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