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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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der Arterhaltung. Zellen, die sich vermehrten und abstarben. Protoplasmaklümpchen. Winziges Kämmerchen, mikroskopische Einheiten, stark vergrößert. Omnis cellula a cellula. Aus lauter Einzelteilen ein Ganzes. Hochgradige Arbeitsteilung. Jeder Organismus eine außerordentlich komplizierte Maschine. Ein Staat, in dem jedes kleinste Teil seine Aufgabe hat. Kolonien genetisch identischer Einzelzellen. Das Zusammenleben von Zellen auf Kosten anderer. Der bessere Staat. Das schönere Land. Unsere Heimat. Im Osten geht die Sonne auf. Vaters Worte. Hin zum Licht. Pflanzengleich.
    »… Wir machen diese Schule fit für die Zukunft …«
    Einmal durfte sie mit ihm über die Grenze. In seine Geburtsstadt. Neues Verkehrsnetz, zweckmäßige Blockbebauung, der Markt wie ein Kraterloch. Nichts erkannte er wieder. Am Bahnhof der Name, ins Polnische übersetzt. Erstaunlich eigentlich. Nur weil dieselbe geographische Position immer noch besiedelt war. Man müsste die Städte umbenennen, wenn sich die urbane Erbmasse zu stark veränderte. Das war nicht mehr dieselbe Stadt. Eine ganz neue Art.
    »… Und nur gemeinsam …«
    Kooperationen mit der Staatsmacht. Die gegenseitige Hilfe im Tier- und Menschenreich. Kooperatives Verhalten wurde mit Kooperation beantwortet. Wie du mir. So ich dir. Manchmal gingen Kojote und Dachs zusammen auf Erdhörnchenjagd. Der Dachs grub die Löcher, um die Tiere aus ihren Bunkern zu locken. Am Ausgang schlug dann der Kojote zu. Beim Fressen ließ er oft dem Dachs den Vortritt. Manchmal fraß er aber auch den Dachs auf. Zusammenarbeit war immer ein Risiko.
    »… Und nur gemeinsam, miteinander und …«
    Ein Geben und Nehmen. Was Kattner wohl meinte? Früher bekamen die Hühner den Rinderdung und die Rinder den Hühnerkot zu fressen. Eiweiß gegen Biomasse. Unverdaute Energien, brachliegende Talente.
    »… Entwicklung hat nicht nur mit Wachstum zu tun …«
    Zellerneuerung um jeden Preis. Dienst nach Vorschrift. Reibungsloser Ablauf. Die Zelle war politisch. Die Familie die kleinste Zelle der Gesellschaft. Die Pyramide der Lebensalter. An der Spitze stand die Familie. Welche Familie? Sie hatte einen Mann, der Strauße liebte, und eine Tochter, an die sie sich kaum noch erinnern konnte. Die Zelle, der Ort aller Krankheiten, allen Übels. Dass Vater einfach so gestorben war. Ihre Haare waren weiß geworden. In ein paar Wochen nur. Plötzlicher Melaninrückgang. Sie war gerade dreißig. Claudia im Ferienlager. Wie erschrocken sie war, als sie zurückkam. Das Kind hätte sie beinahe nicht erkannt.
    »Ganz im Gegenteil: Wir schrumpfen. Aber wir schrumpfen uns gesund …«
    Dieser Gestank war wirklich bestialisch. Ein paar hielten sich schon die Nase zu. Die Schwanneke hatte anscheinend ihren Geruchssinn verloren. Sie grinste immer noch in alle Richtungen.
    Das Jahr darauf hatte sie Claudia im Unterricht. Heute war sowas gar nicht mehr erlaubt. Dabei hatten viele Kollegen ihre eigenen Kinder in der Klasse gehabt. Claudia hatte sicher nicht darunter gelitten. Man wusste, wo man hingehörte. Hatte sein Einkommen. Wusste das Kind versorgt.
    »Aber das hier … das ist keine Leere. Das sind unerschlossene Möglichkeitsräume …« Er redete schon wie Thiele. Die gleichen Gesten, das gleiche Pathos. Das Blaue vom Himmel.
    »So viel Platz – Platz für Neues, Platz für Ideen!« Er breitete die Hände aus. Er hätte Pastor werden sollen. Pfarrer Kattner. Schon am Mittwoch das Wort zum Sonntag.
    Endlich fiel ihr ein, was so stank. Der Ginkgobaum! Dass sie nicht früher darauf gekommen war! Es waren die aufgeplatzten Früchte, das faulige Samenfleisch. Ein beißender, ranziger Geruch. Das Ungetüm von einem Baum war ein Überbleibsel des alten Schulgartens, als Zierde gedacht. Mit Plakette und Sinnspruch. Eins, das sich teilt. Weder Laub- noch Nadelbaum. Im Goethejahr neunzehnhundertzweiundachtzig aus einem Samen gezogen. Goethebaum. Goetheknochen. Er hatte wirklich gedacht, er hätte den Zwischenkieferknochen gefunden. Das Erforschliche erforscht. Ob es ein männlicher oder weiblicher Baum war, wusste man erst nach zwanzig Jahren, wenn er die ersten Früchte trug. Fast wie beim Meerschweinchen. Seit ein paar Jahren war der Ginkgo geschlechtsreif und verpestete jeden Herbst die Luft. Elender Nacktsamer.
    »Von euch, liebe Schülerinnen und Schüler, hängt es ab, was aus dieser Region wird.«
    Appelle an das Bewusstsein. Jungvolk, hört die Signale! Scheitern als Chance.
    »Eure Generation ist es, die …«
    Immer

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