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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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Zuckerschlecken, der Tod dort draußen brutal. Ein gewaltsamer Tod war das allernatürlichste. Was sollten wir denn bitteschön machen mit all den Tieren, den Ergebnissen selektiver Zucht und kontrollierter Kreuzung? Rinder waren eine Erfindung des Menschen. Das waren Milchmaschinen, weidendes Fleisch mit sieben Mägen. Wir hatten sie gezüchtet. Jetzt mussten wir sie auch aufessen.
    »Sie haben es gut. Wann kommt denn nun eigentlich Ihre Tochter wieder?«
    »Bald.«
    Perfide Person.
    Wie scheinbar beiläufig sie diese Frage platzierte. Messer von hinten. Was bildete die sich ein? »Und Ihr Mann?« Na also. Volltreffer. Die Kartoffel fiel von der Gabel zurück auf den Teller. Besteckgeräusche. Hoffentlich war jetzt Ruhe.
    »Er hat eine andere.« Natürlich. Bekenntniswahn.
    »Sie ist jünger.«
    Hose runter.
    »Und jetzt auch noch schwanger.«
    Nicht gerade originell.
    »Ich kann keine bekommen.«
    Wer keine Scham kannte, bekam auch keine Kinder. Selbstentblößung, Selbstentblödung.
    »Als ich klein war, da habe ich meine Mutter gefragt, wie man eigentlich ein Kind bekommt?« Sie zog die Luft ein. Noch auf dem Sterbebett würde sie Reden schwingen. Was denn nun noch?
    »Und dann hat meine Mutter gesagt …« Der Mund zitterte. Die machte es auch nicht drunter. Dass ausgerechnet die Mitmenschen, die sich ihres Feingefühls rühmten, einem so penetrant ihre Gefühle aufdrängen mussten. »… wenn man es sich ganz doll wünscht.« Jetzt war sie nicht mehr zu halten. Wirklich hemmungslos. Dabei war sie doch schon nackt. Nicht hingucken. Das spornte nur an.
    »Inge.« Sie zog die Schultern hoch.
    »Inge.« Lippenbewegungen. Kaum Stimme. Sie heulte doch nicht etwa?
    »Ich darf doch Inge sagen?«
    Erpressung war das. Alles mit Absicht.
    »Ja, darfst du.« Was sollte man schon sagen? Der Wasserkreislauf war mächtig. Missbrauch beim Mittagessen.
    Was denn nun? Ein Schluchzen. Ihre mageren Hände. Sie fiel ihr um den Hals. Eine Umarmung. Ein Klammergriff. Ihre Brüste, weich und warm.
    An der Haltestelle hatten sich heute schon früh die Fahrschüler zusammengerottet. Der Bäcker um die Ecke hatte dichtgemacht. Der einzige Ort in Schulnähe, wo man noch sein Taschengeld lassen konnte, war der Zigarettenautomat in der Steinstraße.
    Die Jungs tippten lustlos auf ihren Handys herum, die Mädchen wippten zu Musik aus Ohrstöpseln und waren unauffällig. Selbst Ellen wurde in Ruhe gelassen und war in ein Buch versunken. Weit und breit kein Auto. Mitten in der Woche Sonntagsstimmung. Wer fehlte, war Erika.
    Wo blieb sie denn? Inge Lohmark stellte sich so hin, dass sie sowohl die Stadtseite als auch den Weg zur Schule im Blick hatte. Den Wall, die Straße zum Markt. Nichts. Fehlanzeige. Der Bus kam. Alle stiegen ein. Nicht mal Gerangel. Das dumme Gesicht des Busfahrers. Sie schaute sich noch mal um.
    »Fahren Sie. Ich hab was vergessen.«
    Die Türen schlossen sich.
    Der Bus fuhr ab. Ohne sie.
    Jennifers verwundertes Gesicht durch die Scheibe. Was nun? Es war wirklich kalt. Und so dunkel. Novemberwetter. Über die Straße.
    Der Schulflur war dunkel. Nirgendwo mehr Unterricht. Und noch kein Volkshochschulkurs. Gespenstische Stille. Schlanke Eisenstreben, ein Gitter, die Treppe hoch. Eine Hand am Geländer. Die in Beton gegossenen Steine der Fensterbänke.
    Sie war allein hingegangen damals. Mit niemandem hatte sie darüber gesprochen. Mit wem auch? Das mit Hanfried war vorbei. Und Wolfgang ging es nichts an. Eine Unterleibsgeschichte. Ein kleiner Eingriff mit Übernachtung im Krankenhaus. Er hatte ohnehin den Kopf voll. Eine unruhige Zeit war das. Die Grenzen offen. Das Geld neu. Jahrzehntelang war die Pflanzenproduktion bevorzugt worden. Das rächte sich jetzt. Aufstand der Viehpfleger. Keiner wusste, wie es weiterging. Lauter Leute, die behaupteten, sie hätten Ahnung. Erst hieß es noch, dass eine neue Milchviehanlage gebaut werde. Und dass sie auf Leistungsfütterung umstellen sollten. Der Arzt meinte, sie wäre schon drüber. Aber dann hatte er es doch gemacht. Es galt ja noch die Übergangsregelung. Er sah gut aus, obwohl er eine Glatze hatte. Bestimmt nicht von hier. Die wenigen Haare standen ab wie kurze elektrische Drähte. Die Schwester rasierte ihr die Scham und hielt ihre Hand. Bis die Spritze wirkte. Das Erste, was sie sah, als sie aufwachte, war das Milchglas der Krankenhausfenster. Die geriffelten Scheiben in der Tür. Wie die Küchentür bei ihren Eltern. Ein Schleier aus Spinnweben. Dünne Pergamentseiten in

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