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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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hing es von den kommenden Generationen ab. Der Jugend wurde wieder mal die Zukunft verkauft.
    Der Wind stand ungünstig. Unerträglich, dieser Gestank! Man könnte Kupfernägel in den Stamm schlagen. Aber wahrscheinlich würde er selbst dann nicht eingehen. Diese Bäume waren ja nicht kaputt zu kriegen. Lebendige Fossilien wie die reglosen Riesenechsen auf den Galapagos-Inseln. Ein Ginkgo hatte selbst Hiroshima überlebt. Der konnte tausend Jahre alt werden. Wie diese Mammutbäume, die sie mit Claudia besichtigen wollten. Aber dann sind sie doch nicht nach Norden gefahren. Bäume aus der Vorzeit. Dieses Land war ja eine einzige Urzeitlandschaft. Alles zu groß, zu weit. Täler und Wüsten, Tagesreisen, Wochenreisen groß. Viel zu unübersichtlich. Sie hatten alle Möglichkeiten gehabt, als sie diesen Kontinent entdeckten und besiedelten. Und was war schließlich dabei herausgekommen? Häuser aus Pappe und Holz. Dagegen war selbst ihr Haus massiv. Zimmergroße Kleiderschränke, fünfspurige Autobahnen, ausgestorbene Bürgersteige und Straßen, die wie Fernsehserien hießen. Und Städte, die es nur gab, weil die Klimaanlage erfunden worden war. Die Fremdenführerin mit einem dieser arglosen, amerikanischen Gesichter, in dem noch die Reste der Physiognomien ausgewanderter Europäer zu erkennen waren. Ein Volk von Einwanderern. Claudia übersetzte. Ständig forderte sie einen auf, sich umzusehen. Sie redete die ganze Zeit über das Wasser. Das Wasser, das hier mal war, der riesige Ozean. Und behauptete, dass diese Wüste nichts anderes als der Grund eines riesigen Meeres war und diese bizarren, roten Berge eine unterseeische Hügelkette. Aber da war nur tote Landschaft. Kakteen, von Spechten durchlöchert, die in ihnen nisteten. Später, im Reservat, hockten dicke Indianerweiber vor Wohncontainern. Zaun um unfruchtbares Land, auf dem sie Plastiktüten anzubauenschienen. Man durfte sie nicht anschauen, nicht ihre Gräber fotografieren. Überall Verbotsschilder. Land der Freiheit.
    Es klingelte. Ende der großen Pause. Aber nicht groß genug für Kattner. Das letzte Mal hatte er auch minutenlang überzogen. Macht des Alleinherrschers. Demokratie predigen und den eigenen Willen durchsetzen. War ja auch egal, wie man das nannte. Gerecht war es jedenfalls nicht.
    »Seid wild! Bleibt hier! Verändert was! Schafft Perspektiven!« Das kannte sie. Gegen Ende lösten sich alle Reden immer in Parolen auf. Gar keine Staatsform wäre das Allerbeste. Es würde sich alles schon von alleine organisieren.
    Tante Anita hatte es wieder einmal gut mir ihr gemeint. Eine riesige Portion. Königsberger Klopse. Altbewährte Schulspeisungsspeise. Der Teller war randvoll. Man musste aufpassen, dass einem die Soße nicht aufs Linoleum kleckerte.
    Sie war früh dran. Der Lehrertisch noch leer. Hinten ein paar Schüler. Es war geradezu friedlich. Endlich allein. Es schmeckte sogar.
    Ein Schlüsselbund klatschte auf die Tischplatte. Mit einem geflochtenen Bändchen dran.
    »Mahlzeit, zusammen!« Auftritt Schwanneke. »Ich komm mal gleich zu Ihnen. Ich darf doch …«
    Warum sie überhaupt fragte? Eine Heimsuchung. Nirgends war man vor der sicher. Anscheinend war sie immer noch überschäumend guter Laune. Beseelt von Kattners Predigt. Sie setzte sich und schälte sich aus ihrem Mantel.
    »Der Direktor hat schon recht. Man lernt tatsächlich nie aus, nicht wahr?«
    Was für ein Papagei. Musste alles nachplappern.
    »Wir gehen wirklich ein Leben lang zur Schule.« Sie faltete die Serviette auseinander, drapierte sie auf ihrem Schoß.
    Langsam wurde das Essen kalt. Anscheinend hatte sie keinen großen Hunger. Vielleicht auf Diät. Solche Frauen waren ja immer auf Diät. Gekocht habe ich nichts, aber guck mal, wie ich daliege.
    »Frau Schwanne-k-e?« Dass die Schüler immer die letzte Silbe ins Unendliche ziehen mussten. Bei ihrem Namen ging das glücklicherweise nicht.
    Ein Mädchen. Kleine Nase, große Augen. Dünner Mund. Dem Siezen nach zu urteilen, zehnte Klasse. Das Duzen gab es ja erst ab der Elf.
    »Ja-a-a?« Gleiche übertriebene Betonung. Die Schwanneke drehte sich mit dem ganzen Oberkörper. Extra langsam. Wie sie das genoss.
    »Müssen wir das Gedicht wirklich schon morgen vorstellen?«
    »Aber Karoline, das hatten wir doch so vereinbart.«
    Was für große Zähne die Schwanneke hatte. Das rosa Fleisch hatte sich zurückgebildet.
    »Ich hab aber erst den Anfang.«
    »Aber das ist doch superklasse. Dann besprechen wir morgen in der Stunde, wie

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