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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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es weitergehen könnte. Ja?«
    Anbiederung allererster Güte.
    »Danke, Frau Schwanneke.«
    Fehlte nur noch, dass das Mädchen einen Knicks machte. Die konnte doch nicht wirklich so beliebt sein.
    »Achja, die lieben Schüler …« Sinnierender Singsang. Sie zerdrückte ihre Kartoffeln.
    »Das sind schon alles irgendwie meine Kinder.«
    Man brauchte gar nicht zuzuhören. Es war immer dasselbe Lied. Die Gabel wanderte zum Mund. Endlich stopfte sie ihn mit ein paar Bissen.
    »Einige von ihnen muss man …« Sie kaute beim Reden. »… das ist mir vor kurzem klar geworden – lieben …« Sie schluckte. »… um sie zu ertragen.« Sie sollte aufpassen. Einem sprechenden Tier konnten sehr leicht Speisebrocken in die Luftröhre geraten.
    »Wenn die vor einem stehen, so ganz verzagt und klein, manchmal auch ein bisschen frech, dann gibt es doch eigentlich nur zwei Möglichkeiten …«
    Sie war der lebende Beweis, dass der Mensch sich nicht durch Vernunft, sondern durch demonstrative Sprachfähigkeit vom Tier unterschied.
    »Abhauen oder …«
    Dieser Blick. Als ob sie sich entschuldigte.
    »… lieben.«
    Dieser Mensch kannte keine Scham. Der Lippenstift war schon verblasst, aber die Umrisslinien standen noch da. Helles Puder, das die Poren verstopfte. Sehnsucht nach einer großen Bühne.
    »… und ich habe mich immer für die Liebe entschieden.«
    Pathos in der Stimme. Sie hätte wirklich Schauspielerin werden sollen. War sie ja auch. Sich öffentlich an den eigenen Hormonschwankungen berauschen.
    »Ich meine, Gedanken auszutauschen ist eigentlich etwas sehr Schönes. Und …« Kokettes Lachen. Diese Zähne. Zum Fürchten.
    »… etwas sehr Intimes.«
    Warum erzählte sie ihr das? Was wollte sie denn? Weit und breit kein Rampenlicht, kein Publikum, keine Aussicht auf Applaus. Aber wer keinen Geruchssinn hatte, dem fehlte auch sonst jegliches Gespür.
    »Der pädagogische Eros.« Sie schmatzte genüsslich.
    Klar, wer die Kinder nötigte, dass sie einen beim Vornamen nannten, nahm sie auch zum Kuscheln mit ins Bett. Zupackender Sportlehrergriff. Hilfestellung, wo die Sporthose besonders kurz war. Unterste Schublade. Heruntergezogene Kinderschlüpfer. Schule zum Anfassen. Das wollten sie doch immer.
    »Ach.« Hand zum Mund. Die Schwanneke war plötzlich erschrocken.
    »Jetzt hab ich doch glatt vergessen, dass ich kein Fleisch mehr esse.« Sie rollte einen Klops zum Tellerrand. Man konnte nicht weggucken.
    Claudia hatte auch mal so eine Phase gehabt. Wolfgang war gerade arbeitslos geworden. Die Tierproduktion wurde abgewickelt. Und seine Tochter aß kein Fleisch mehr. Geschmacklos. Aber Inge Lohmark briet niemandem eine Extrawurst. Weder in der Schule noch zu Hause. Claudia hat dann auch nicht lange durchgehalten. Der Klops rollte zurück.
    »Ich meine, das ist ja auch eine Umweltbelastung. Der Treibhauseffekt. Das sind ja richtige Klimakiller. Das ganze Methanol.«
    So dumm, dass es weh tat. Wo hatte sie denn das wieder aufgeschnappt? Da hatte sie wohl mal nachts nicht schlafen können und sich von einer besonders bedeutungsschwangeren Fernsehstimme in die Bewusstlosigkeit quatschen lassen. Früher das Ozonloch. Von dem hatte man auch lange nichtsmehr gehört. Heute der Klimawandel. Bei ein paar Milliarden Jahren Erdgeschichte konnte es schon mal zu klimatischen Veränderungen kommen. Ohne Erwärmungen würde es die Menschen gar nicht geben. Allein dieser unerträgliche Tonfall im Ökologiekapitel. So schuldbewusst. Nur darauf aus, schlechtes Gewissen zu züchten. Apokalypse übermorgen. Wie in der Kirche. Nur ohne Paradies. Moral hatte in der Biologie genauso wenig zu suchen wie Politik. Als wäre der Mensch das einzige Lebewesen, das seine Umwelt zerstört. Alle Organismen taten das. Jede Spezies verbrauchte Raum und Ressourcen und hinterließ Abfall. Jedes Lebewesen nahm einem anderen den Lebensraum weg. Wo ein Körper war, konnte kein anderer sein. Vögel bauten Nester, Bienen Waben, Menschen Fertighäuser. Ein natürliches Gleichgewicht gab es nicht. Der Stoffkreislauf, der alles am Leben hielt, entstand nur durch Ungleichgewicht. Die Sonne, die jeden Tag aufging. Ein gewaltiges Energiegefälle, das uns am Leben hielt. Gleichgewicht, das war das Ende, der Tod.
    Jetzt fing die Schwanneke trotzdem an, den Fleischball mit der Gabel zu zerteilen.
    »Die armen Tiere.« Sie stöhnte. Als ob sie den Klops meinte.
    Wie blöd konnte man eigentlich sein? Außerdem war das Überleben in der Wildnis ja auch kein

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