Der Hals der Giraffe
Fotoalben. Geht ein Frosch in ein Milchwarengeschäft. Fragt die Verkäuferin: Na, kleiner Frosch, was möchtest du denn? Sagt der Frosch: Quark. Claudia musste jedes Mal lachen. Schon als Kind. Und selbst später noch. Ihr Lieblingswitz. Gab es überhaupt Milchwarengeschäfte? Damals vielleicht. Die Molkereien hatten dichtgemacht. Von heute auf morgen wusstensie nicht mehr, wohin mit der Milch. In der Schule tranken alle Cola. Und als sie nach der Weideperiode die Rinder wie jedes Jahr abliefern wollten, gab es den Schlachthof nicht mehr. Und keine Stallplätze für den Winter. Sie wussten einfach nicht, wohin mit den Kühen. Fliegende Händler holten sie für Spottpreise. Die Milch schütteten sie auf den Acker. Ein zweites Kind hätte sie nicht mehr verkraftet. Claudia war in der Pubertät. Und Wolfgang kämpfte um seinen Arbeitsplatz. Um Milch zu geben, musste eine Kuh ein Kalb geboren haben. Erst eine Kuh, die Milch gab, war eine Kuh. Und nur eine Frau, die ein Kind geboren hatte, war eine Frau. Antikörper. Falscher Rhesusfaktor. Es hatte einfach nicht gepasst. Sie hatte Claudia geboren und gefüttert. Ihre Pflicht erfüllt. Was hätte sie mehr tun können? Stillen ging nicht. Milch hatte sie keine gehabt. Die Schamhaare wuchsen schnell wieder nach. Erstaunlich, dass sie sich an manchen Körperstellen mit einer bestimmten Länge begnügten. Das genetische Programm.
Wie kalt ihr plötzlich war, ein Schauer über den Schultern, Gänsehaut auf dem Kopf. Aber das war normal. Ein Relikt aus der Vorzeit, als der Mensch noch Fell trug. Die aufgerichteten Haare ließen einen stärker aussehen, wenn man einem Feind gegenüberstand. Es gab keinen Feind. Alles war gut. Was war schon normal? Manchmal war die Regel die Ausnahme. Blütenlose Pflanzen, die Jungfernzeugung bei Blattläusen. Vögel, die nicht fliegen konnten. Sie könnte sich scheiden lassen. Dass sie noch nie daran gedacht hatte.
Scheppernde Geräusche. Eine Tür stand offen. Eine Reinigungsfrau stellte die Stühle hoch. Dass sie immer noch diese Dederonschürzen tragen mussten. Bohnerwachs. Das stank noch schlimmer als die Ginkgosäure.
Hanfried war ihr erst gar nicht aufgefallen. Eine Bürgerinitiative. Endlich mal ein Subbotnik, der wirklich freiwillig war. Wolfgang machte nicht mit. Es war ihm zu heikel. Sie räumten den Müll aus den Söllen und pflanzten Bäume an dem Feldweg hinter dem Neubaublock. Ackerrandstreifen. Hans war anfangs dabei gewesen. Claudia auch. Zusammen mit den spindeldürren Pfarrerskindern.
Hanfried holte immer die Bäume. Wildlinge. Feldahorn, Buchen, Kastanien. Vom Förster. Manchmal kam sie mit. Sie hatte wirklich nicht damit gerechnet, noch einmal schwanger zu werden. Vergessen, dass sie noch Kinder kriegen konnte. Claudia hatte schon ihre Tage. Der Zyklus des reifenden Eis. Das hatte nichts mehr mit ihr zu tun. Eigentlich fiel es ihr erst später ein. Als sie beim Röntgen unterschreiben musste: Nicht schwanger. Eine Unterbrechung, als könne man die Schwangerschaft irgendwann später wiederaufnehmen. Dieses Kind ein anderes Mal bekommen. Sie hatte beide Kinder verloren. Das ungeborene und das geborene. Blödsinn. Das durfte man nicht mal denken. Die Bäume waren längst überpflügt.
Vielleicht, weil sie die Hand dieser Statue geküsst hatte. Spanien. Costa Brava. Ihre erste richtige Auslandsreise. In einem Kloster in den Bergen. Die Verehrung der schwarzen Muttergottes. Gesundheit und Fruchtbarkeit. Nicht, dass sie an sowas glaubte. Mutterliebe, das war ein Hormon. Ein Mythos. Die fettleibige Göttin aus hungriger Zeit, älter als der Ackerbau. Die Venus von Willendorf. Gedrungener Kalksteinkörper, riesiger Hängebusen überm dicken Mutterbauch, gewaltiger Hintern. Anstelle des Gesichts kleine Locken. Reinste Fruchtbarkeit.
Die Tür zum Direktorenzimmer stand offen. Die Sekretärin arbeitete nur halbtags. Aber eigentlich sah man sie nie. Jetzt saß Kattner an ihrem Platz.
»Lohmark? Was machst du denn noch hier?«
»Hab was vergessen.« Schon wieder. Als ob sie was zu verbergen hätte.
»Was denn?«
Einfach seine Taktik anwenden. Statt einer Antwort eine Gegenfrage. »Und du?«
»Kreuzworträtsel.« Er hob die Zeitung hoch.
»Ägyptischer Gott des Totenreichs.«
War das jetzt eine Frage?
»Österreichische Schauspielerin mit dreizehn Buchstaben?«
Keine Ahnung.
»Na gut. Was haben wir denn da noch? Warte mal. Ah, das ist leicht. Erster Mensch mit vier Buchstaben?«
»Affe.« Es kam ganz automatisch. Wie ein
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