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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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Licht fiel auf seinen Mund. Die Augen im Schatten. Wo war ihr Instinkt geblieben? Wie war sie hierhergekommen? Wo war der Schwanz, den sie jetzt abwerfen konnte?

Entwicklungslehre
    Die Sonne kam hinter den Bäumen hervor und stand jetzt über dem Wald. Alles trat klar und ungetrübt hervor: Blühende Weidenkätzchen und weiß getupfte Schlehen, stechend gelbe Forsythien und dünne Birken mit grünen Zweigen. Seit Tagen hatte es nur geregnet. Aber heute Morgen war der Himmel tiefblau und beinahe wolkenlos. Er spiegelte sich in den Pfützen der Feuchtwiesen. Sie waren riesig, so groß wie Seen. Bald war Ostern. Übernächste Woche begannen die Ferien. Zehn Tage. Wurde auch Zeit. Wie ruhig es war, ganz friedlich. Kaum ein Auto. Keine Schüler am Fahrbahnrand. Der Bus war längst durch. Die Haltestellen verwaist. Als wären sie seit Jahren nicht mehr in Betrieb.
    Das Fenster ließ sich nur schwer hinunterkurbeln. Früher oder später würde sie doch ein neues Auto brauchen. Aber Wolfgang hatte sich gerade eine Brutmaschine gekauft. Vierzig Eier passten rein. Die Brutsaison hatte schon begonnen. Es war frisch, aber die Sonne brannte trotzdem auf der Haut. Es würde warm werden heute. Weicher Westwind. Frühling. Beinahe sommerlich. Sogar die Linden hatten schon leuchtende Spitzen. Der Waldboden war weiß gesprenkelt von Buschwindröschen. Die Gerste strotzend grün, beinahe bläulich. Eine dunkle Silhouette im Gegenlicht. Jemand stapfte über das Feld, die Arme hinterm Rücken verschränkt. Nach vorn gebeugt mit kurzen Schritten, als ob er gegen den Luftwiderstand anzukämpfen hätte. Sie nahm den Fuß vom Gaspedal. Neben der Gestalt ein wuselnder Fleck, ein kleines, rotbraunes Tier. Der Schwanz senkrecht, am Ende gebogen, die hüpfenden Bewegungen austarierend. Das konnte nur eine Katze sein. Hans. Jetzt erkannte sie ihn. Es war Hans. Mit Elisabeth, die da durchs Gras schnürte, ab und an kleine Sprünge machte, um nicht hinter ihn zurückzufallen. Zwei, die sich gefunden hatten.
    Er machte es schon richtig. Man hangelte sich ja doch nur von Ferien zu Ferien. Zehn Tage ohne diese müde Meute. Zehn Tage, die sie ganz für sich haben würde. Nur noch: der Garten. Das Haus. Und Hans, natürlich. Die täglichen Gespräche am Gartenzaun. Eigentlich hatte nur er seinen Platz gefunden. Bei sich zu Hause, in seiner Höhle, mit den beiden Außenthermometern und dem Wetterbericht, der ihn in Schach hielt. Ein Rentnerdasein. Schrecklich eigentlich. Sie müsste mal weg. Zu den Ivenacker Eichen. Die waren doch mindestens genauso alt wie die kalifornischen Mammutbäume. Wenn nicht noch älter. Zu den Kreidefelsen oder den Feuersteinfeldern. Spaziergänge am Strand. War ja alles nicht weit. Das Freilaufgehege mit dem Damwild. Ihr weiß getüpfeltes Fell.
    Wieso war der Bus noch da vorne? Mitten auf der Straße. Blau-weiß gestreift, mit schwarz getönten Scheiben. Das war tatsächlich der Schulbus. Liegengeblieben offensichtlich. Die Kinder standen draußen. Bunte Anoraks im Straßengraben. Auf dem Feld Kevin und Konsorten. Machten einen ganz vergnügten Eindruck. Natürlich. Endlich mal was los. Ein paar Mädchen spielten sogar Gummihopse auf der Straße. Lärm und Gerangel. Mittendrin Marie Schlichters Bushaltestellenvisage. Der Fahrer lief um den Bus herum, ein Mobiltelefon am Ohr. Ellen an seiner Seite. Jetzt öffnete er eine Klappe und steckte seinen Kopf hinein. Und da war Jennifer. Sie kam näher und winkte ihr zu, wollte irgendwas sagen. Endlich war die Gegenfahrbahn frei. Beschleunigen und überholen.
    Der Tag war gelaufen. Die Hälfte würde zu spät kommen. Aber den Stoff würde sie trotzdem schaffen: Evolution bis vor Pfingsten. Danach Wiederholung und Ausblick. Ein Jammer, dass es keinen zentralisierten Lehrplan mehr gab. Heute hatte jedes Bundesland eigene Bücher und ein eigenes Abitur. Falsch verstandene Flexibilität. Als ob in Bayern andere Naturgesetze galten. Das Nervensystem war doch auch zentral. Das war keine Freiheit. Jeder machte seins. Früher hing man im Lehrstoff höchstens mal vierzehn Tage hinterher. Das war immer aufzuholen. Wenn man heute umzog, war man verloren. Aber das war man ja sowieso. Ein Glück, dass sie wieder mit dem Auto fuhr. Früher war sie sogar ins Riesengebirge getrampt. Machte heute kein Mensch mehr. Das hätte noch gefehlt. Mit der Meute auf großer Fahrt. Ein unfreiwilliger Wandertag. Dabei hatte sie sich das sogar einmal gewünscht. Ein Unfall. Ausnahmezustand. Stabile Seitenlage.

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