Der Hals der Giraffe
Familie ermordete, weil er seinen Job verloren hatte. Schulden, die niemals getilgt werden konnten. Gab es überhaupt noch Kinderheime? Der Mensch war das größte Nutztier. Kein Leben ohne Arbeit. Warum war sie Lehrerin geworden?
»Aber das ist ja alles noch Zukunftsmusik. Vorerst bleibst du natürlich hier. War ja nur so ein Gedanke.«
Aber die Pferde scheu machen. Weil ihre Eltern gesagt haben, dass das zu ihr passen würde. Weil man einen Beruf angeben musste, um auf die EOS zu kommen. Weil Kinder geboren wurden und Lehrer gebraucht wurden. Immer. Jedenfalls früher.
»Aber was ist eigentlich los mit dir? Dein Auto muss doch schon längst wieder aus der Werkstatt sein. Warum fährst du denn immer noch mit dem Bus?«
»Ökologie.«
Stirnrunzeln. Er glaubte ihr kein Wort.
»Schlecht siehst du aus, Lohmark. Ich mache mir Sorgen um dich. Du wirkst abgehetzt. Siehst müde aus. Entspann dich. Mach mal einen Kurs. Im alten Russischraum gibt es gleich um fünfzehn Uhr dreißig Schmuckgestaltung, glaub ich. Warte, ich schau mal nach.« Er fischte ein Stück gelbes, bedrucktes Papier aus einem der Stapel.
Sie musste sofort gehen. Es hatte gar keinen Sinn, hier noch einen Moment länger zu sitzen und sich von diesem Zirkusdirektor demütigen zu lassen. Der nächste Bus fuhr erst um sechs. Ab morgen würde sie wieder das Auto nehmen. Warum saß sie noch hier?
Kattner schaute sie herausfordernd an.
Ihr Körper, kraftlos. Der Kopf, so schwer. Das Gehirn war ein enormer Energiefresser. Die Seescheide, ein wirbelloses Knollentier, trennte sich einfach davon, sobald es erwachsen war und sesshaft wurde. Die Quallen hatten auch kein Gehirn. Die kamen mit einem Nervennetz gut durchs Leben. Dieser Kopf. Schon für die Geburt zu riesig. Leichtkalbig war der Mensch nicht gerade. Dieses viel zu große Gehirn. Ein Wissensspeicher, überdimensioniert wie das Geweih des eiszeitlichen Riesenhirsches, die Stoßzähne des Mammuts, die langen Eckzähne des Säbelzahntigers. Ein Verhängnis. Eine Sackgasse. Irgendwann. Was nützte es? Diese Anhäufung vonWissen. Das, was wir nicht wussten, und das, was wir noch nicht wussten, und all das, was wir in Zukunft wissen würden. Disziplinloses Unkraut. Da half keine Weiterbildung. Man kam nicht hinterher. Alles wurde immer nur komplexer und komplizierter. So vieles war noch unerforscht. Es gab immer noch offene Fragen in der Biologie. Die verschlungenen, unverstandenen Beziehungen zwischen den Arten. Manche Hypothesen waren heute wahr, auch wenn zukünftige Versuche sie als falsch erweisen würden. Dass sie geglaubt hatten, das Geheimnis des Lebens sei ein Roman. Nur weil sein Alphabet aus vier Buchstaben bestand. Was waren schon Romane? Illustrationen von Weltanschauungen. Die Baupläne waren entschlüsselt, aber nichts war verstanden. Eine Geheimschrift. Lauter Einheiten, die ab und an ein Wort ergaben, Perlen auf der Chromosomenkette. Perlen vor die Säue. Wenn der Organismus tatsächlich nur ein Sklave seiner Gene war, dann war sein Herr jedenfalls nicht zu verstehen. Was da alles herumlag. Auf der DNA . Und erst auf der RNA . Transkripte unbekannter Funktionen, vorübergehend stillgelegte Pseudogene. Anhängsel und Zwischenräume. Ungenutzte, überflüssige Informationen. Die Intelligenz war selbst bei eineiigen Zwillingen nicht gleich verteilt. Genetisch gesehen war man im Lauf seines Lebens nicht mal mit sich selbst identisch. Die Schulbücher mussten umgeschrieben werden, immer umfangreicher werden, weil täglich immer mehr Wissen dazu kam. Neue Studien. Keine Erkenntnisse. Der Verstand machte uns auch nicht klüger. Eingezwängt im Kausalkettenhemd, das Ich als neuronale Illusion, eine wirklich aufwendige Multimediashow. Ein Tier müsste man sein. Ein wirkliches Tier. Ohne ein Bewusstsein, das den Willen hemmt. Tiere wussten immer,was sie taten. Oder besser, sie brauchten es gar nicht zu wissen. Bei Gefahr warf die Eidechse ihren Schwanz ab. Überflüssigen Ballast einfach loswerden. Dass man immer darüber nachdenken musste, was als Nächstes zu tun war, wie man sich am besten zu verhalten hatte. Tiere kannten ihre Bedürfnisse, hatten einen Instinkt. Hungrig oder satt, müde oder wach, ängstlich oder paarungsbereit. Sie taten es einfach. Sie folgten der Herde, schwammen zur Quelle, legten sich gähnend in die Sonne oder in den Schatten, je nachdem. Fraßen sich eine Fettschicht an. Hielten Winterschlaf.
Kattner knipste die Schreibtischlampe an. Es war schon dunkel geworden. Das
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