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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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Reflex.
    Kattner prustete los. »Affe! Ich fass es nicht.« Er rollte mit seinem Stuhl zurück und warf den Kopf nach hinten.
    Jetzt fiel ihr die richtige Antwort ein.
    »Affe. Affe. Affe.« Er wollte sich gar nicht mehr beruhigen.
    »Lohmark, dafür kriegst du ein Bienchen.« Er machte eine einladende Geste. »Setz dich mal her.«
    Der Stuhl war unbequem.
    Kattner rollte wieder zum Schreibtisch.
    »Ohnehin gibt es da was, das ich dir sagen wollte.«
    Immer diese Kunstpausen.
    »Also, die Chemie zieht demnächst zu dir, nicht dass du dich wunderst.«
    »Wieso denn das?«
    »Du, die Kreativkurse brauchen unbedingt einen Raum mit Waschbecken. Muss was mit den Farben zu tun haben. Und Kollegin Schwanneke gibt ihren nicht her. Kannst du dir ja vorstellen. Überhaupt: Bio und Chemie, das eine geht ja eh nicht ohne das andere.«
    Chemie war stumm. Biologie sprach. Sie war nie besonders gut in Chemie gewesen. Zitronensäurezyklus. Elektronentransportkette. Die Chemie mochte ihr vielleicht fehlen. Aber nicht in ihrem Raum. Es reichte schon, dass es auf dem Schulhof stank.
    »Bis jetzt ist noch kein Atom mikroskopiert worden.« Das hatte ihr Seminarleiter immer gesagt.
    »Doch, doch. Wußtest du das nicht?« Er tat ganz entsetzt. »Mittlerweile kann man Moleküle mit dem Elektronenmikroskop sichtbar machen.«
    Ach ja, stimmt. Das hatte sie auch irgendwo gelesen.
    »Macht ja nichts. Ich war in Chemie auch nicht besonders gut. Hab nie kapiert, ob das jetzt ein Modell ist oder die Wirklichkeit.« Kumpelhaftes Grinsen. »Ich hatte immer eine Drei. Aber wie heißt es so treffend? Drei ist befriedigend. Und was gibt es Schöneres, als befriedigt zu sein?« Er sang das beinahe. »Nicht wahr?«
    »Ich hatte ja schon lange keine Weiterbildung mehr.« Die letzte war bestimmt zehn Jahre her.
    »Inge, versteh doch. Das lohnt sich einfach nicht mehr.«
    »Wer hat denn heute groß rumgetönt, dass man ein Leben lang zur Schule gehen soll!«
    »Sollst du ja auch. Und das Letzte, was ich will, ist, deine fachliche Kompetenz anzuzweifeln. Aber neunzig Prozent derLehrer in unserem Bundesland sind über vierzig Jahre alt. Kannst dir doch vorstellen, was das bedeutet.«
    »Viel Erfahrung.«
    »Total überaltert. Klar sind die Alten die Zukunft. Schon allein wirtschaftlich. Der einzige Markt, der wächst. Und biologisch gesehen sind die Sechzigjährigen heute ja jünger als die Vierzigjährigen vor zwanzig Jahren.«
    Ein Fähnchen im Wind.
    »Aber du weißt: Der Kampf ums Dasein. Du bist doch vom Fach. Ein bisschen Frischfleisch würde uns schon ganz gut tun. Nur die Fittesten überleben!« Er strich sich über den Bauch.
    »Wie du weißt, ist ja nicht sicher, was mit uns allen, also mit mir schon … also was da auf euch zukommt in vier Jahren. Da kann es unter Umständen sogar ganz ratsam sein, sich schon vorher nach einem anderen Wirkungsbereich umzusehen.«
    Worauf wollte er hinaus?
    »Neubrandenburg zum Beispiel.«
    Wovon redete er?
    »Deine Fachlichkeit würdest du in dem Fall natürlich behalten.«
    Fachlichkeit? Wieso? Wovon sprach er eigentlich?
    »Oder …« Er holte Luft. »… oder du bleibst hier in der Stadt.«
    »Regionalschule?« Keine zehn Pferde. Erpressung war das.
    »Nein, nein. Die sind auch überbesetzt. Viel besser: Zurück zu den Wurzeln. Versteh doch: Du könntest noch einmal ganz von vorn anfangen.«
    Das ergab alles keinen Sinn.
    »Die Grundschule!«
    Er war wohl verrückt geworden. Es würde sich gleich aufklären. Sie hatte nichts zu befürchten. Das kluge Tier wartet ab.
    »Was soll ich denn bitteschön an einer Grundschule unterrichten?« Das durfte er gar nicht. Personaldinge entscheiden.
    »Na, Sachkunde. Dafür bist du doch die Richtige. Der Wald, das Haus, der Mensch. Temperaturen messen. Wolken beobachten. Pilze suchen. Da kannst du endlich mal die Grundlagen schaffen, die du jetzt immer vermisst. Ich meine, dafür bist du doch Lehrerin geworden. Um den Kindern was beizubringen.«
    Deswegen war sie ganz bestimmt nicht Lehrerin geworden.
    »Du weißt: Das Arbeitslosengeld wird zwei Jahre gezahlt. Und es gibt genug artverwandte Aufgaben, die weniger erfreulich sind: Schwererziehbare beaufsichtigen. Nachtwache in der Klapse. Schichtdienst im Kinderheim.«
    Er konnte ihr gar nichts. Die sozialistische Persönlichkeit wird in erster Linie durch den Arbeitsprozess geformt. Dienst nach Vorschrift. Chinesische Werkarbeiter, die aus Hochhäusern sprangen, weil ihnen gekündigt wurde. Ein Familienvater, der seine ganze

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