Der Hase aus Amerika und andere Beziehungskisten (German Edition)
Schaffner ihr bereitgestellt hat, hermacht,
sieht sie durchs Fenster schon die ersten Kräne der großen Hafenstadt am
Horizont aufragen. Es beginnt, zu regnen. Marie legt ihre Hand zärtlich gegen
die Scheibe, als wolle sie die Regentropfen streicheln. Nach der langen Zeit im
warmen Süden liebt sie den Nieselregen dieser Stadt wie nie zuvor. Mein Gott,
wie lange hat sie ihre Heimat nicht gesehen? Niemals hätte sie geahnt, ein
derartiges Glücksgefühl, ja, geradezu ein Gefühl der Liebe, beim Anblick ihrer
Heimatstadt zu empfinden.
Als der Zug in den Verladebahnhof einfährt, sieht Marie
schon von Weitem ihre Mutter winken. Zu ihrer Überraschung steht Maries alter
Jugendfreund Peter neben ihr. Vor Erleichterung muss Marie schon wieder weinen.
Peter war einmal ihr bester Freund gewesen, zu nett für mehr.
Und doch ist es Peter, an dessen Schulter sie nun wieder
einmal weinend lehnt. Plötzlich liebt sie dieses vertraute Gefühl, seinen
wohlbekannten Geruch, den Klang seiner Stimme.
Er ist es, der ihr in den letzten Wochen der Schwangerschaft
zur Seite steht. Er ist es, der mit ihr ein geeignetes Krankenhaus auswählt,
ein Kinderbett mit ihr kauft und die ersten Strampelanzüge. Als Marie mitten in
der Nacht die Fruchtblase platzt, ist er es, der sie ins Krankenhaus fährt, die
ganze Nacht lang ihre Hand hält und ihre schweißnasse Stirn immer wieder mit
einem feuchten Tuch kühlt. Marie wird bewusst, dass er all dies tut, ohne dass
sie jemals ein Essen für ihn hatte kochen müssen, geschweige denn seine Wäsche
hatte waschen müssen. Im Gegenteil, er war ihr immer ein Freund gewesen. Sie
dagegen hatte ihm dafür nur wenig zurückgegeben.
Noch im Krankenhaus verfasst Marie einen langen Brief an
Roberto. Hier, aus der sicheren Entfernung heraus, traut sie sich endlich, ihm
all das zu schreiben, was sie in seiner Nähe nicht hatte aussprechen können.
Zum Schluss teilt sie ihm mit, dass sie nicht zurückkommt. Sie hat große Angst
vor seiner Reaktion, aber es muss sein. Für sie und vor allem für ihren Sohn,
der friedlich in seinem kleinen Krankenhausbettchen neben ihr schlummert, muss
sie so schnell wie möglich einen Schlussstrich ziehen. Erst dann kann sie ihr
Leben neu in Angriff nehmen.
Zwei Wochen nachdem Peter den Brief für Marie zur Post
gebracht hat, steht Roberto vor der Tür. Noch in der Tür teilt er Marie mit,
dass er den ganzen Weg aus Italien mit dem Auto gekommen sei, um seinen Sohn
abzuholen. Sie könne ruhig hier bleiben, das sei kein allzugroßer Verlust, aber
seinen Sohn, den wolle er haben, der gehöre schließlich ihm.
Marie ist kreidebleich und zittert. Dann lehnt sie sich zum
ersten Mal gegen Roberto auf. Lieber wolle sie sterben, als ohne ihren Sohn zu
leben, schreit sie ihn an. Sie habe ihn in sich getragen und mit ihrer Liebe
geschützt, als Roberto sie beleidigt und verletzt hatte, so sehr, dass ihr
Ungeborenes in Gefahr geriet.
Robertos Augen verengen sich gefährlich. Er macht einen
Schritt auf die Tür zu, doch Marie versperrt ihm mit den Armen den Weg.
Ungerührt schlägt er ihr ins Gesicht, sodass Marie zurücktaumelt. Wieder
versucht sie den Eingang mit den Armen zu versperren, als Roberto mit voller
Wucht seinen Arm auf ihren niedersausen lässt. Es knackt. Marie schreit laut
auf vor Schmerz. Dann sinkt sie zu Boden und beginnt leise zu weinen. Wer einem
Kind seine Mutter stehlen wolle, sei kein guter Vater, sagt sie müde.
Geschockt über das, was er angerichtet hat, steht Roberto
da. Dann hört Marie Schritte die Stufen heraufeilen. Es ist Peter. Ein kurzer
Blick genügt: Marie, die auf dem Boden kauert, den Arm fest umklammert,
Robertos Ausdruck wütend und hilflos zugleich, unschlüssig von einem Bein aufs
andere tretend.
Peter lässt die Tüte mit den Windeln, die er nur schnell
besorgt hatte, fallen. Ohne nachzudenken, packt er Roberto am Kragen und
schubst ihn zur Treppe. Dann rennt er zu Marie und knallt die Haustür hinter
ihnen zu.
Als der Krankenwagen eintrifft, ist Roberto verschwunden. Da
er auch am folgenden Tag nicht mehr auftaucht, sieht Marie davon ab, Anzeige zu
erstatten.
Als Maries Arm verheilt ist, teilt sie Peter eines Abends
ihren Wunsch mit, mit ihm zusammen ein neues Zuhause zu suchen. Sie könne nicht
ewig mit dem Baby bei ihrer Mutter bleiben, sagt sie. Und sie wolle in Zukunft
auch niemals mehr seine Schulter entbehren müssen. Einen Moment lang sieht er
sie ungläubig an. Sollte nun doch noch ein Wunder
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