Der Hase mit den Bernsteinaugen
goldstrotzenden Marmorpalast der Belle Epoque am Primorsky Boulevard. Im Foyer spielt leise Musik, Queen. Der Boulevard ist eine breite Promenade, gesäumt von einer Reihe klassizistischer, gelb und hellblau angestrichener Gebäude. Er erstreckt sich zu beiden Seiten der Potemkin-Treppe, die durch Eisensteins Film »Panzerkreuzer Potemkin« berühmt wurde. Es sind 192 Stufen mit zehn Zwischenabsätzen, so angelegt, dass man, von oben hinunterblickend, nur die Absätze sieht, von unten hinauf hingegen nur Stufen.
Man sollte die Treppe langsam emporsteigen. Oben angekommen, sollte man die aufdringlichen Verkäufer meiden, die sowjetische Marinemützen feilbieten, den bettelnden Matrosen mit dem um den Hals gehängten Gedicht und den als Peter der Große verkleideten Mann, dem man für ein Foto mit ihm Geld geben soll. An der Vorderseite steht eine Statue des Herzogs von Richelieu in Toga, der Gouverneur der Region hatte ihn Anfang des 19. Jahrhunderts hierherberufen, um die Stadtplanung zu leiten. Vorbei an ihm und durch die Torbögen goldstrotzender Gebäude, zwei perfekte Klammern, und man kommt zu Katharina der Großen, umringt von ihren Favoriten. Fünfzig Jahre lang stand hier eine sowjetische Statue, aber nun ist Katharina dank einem lokalen Oligarchen wieder an ihrem alten Platz. Granitblöcke liegen zu ihren Füßen.
Oben angekommen, geht es nach rechts; die Promenade verläuft zwischen von Kastanien und staubbedeckten Blumenbeeten gesäumten Avenuen bis zum Schlusspunkt, dem Gouverneurspalast, dem Ort berühmter Festivitäten. Er ist streng und dorisch.
Jede Ansicht wirkt austariert. Es gibt Landmarken, zwischen denen man hin und her wandern kann: die Puschkin-Statue, die an seinen Aufenthalt in Odessa erinnert, eine von den Briten im Krimkrieg erbeutete Kanone. Hier fand die abendliche Promenade statt, »das Hin-und-wider-Wandern in der Dämmerung, das Schwatzen und die Liebelei«. Etwas weiter oben steht das nach dem Vorbild der Wiener Oper errichtete Opernhaus, wo sich jüdische und griechische Fraktionen im Namen der jeweils neuen italienischen Sängerinnen - die »Montechellisti«, die »Carraristi« - bekriegten. Das ist keine um eine Kathedrale oder eine Festung erbaute Stadt. Es ist eine hellenische Stadt der Kaufleute und Dichter, und dies ist eine bürgerliche Agora.
In einem Kramladen in einer Einkaufspassage kaufe ich für meine Kinder ein paar Sowjetmedaillen und Ansichtskarten aus dem 19. Jahrhundert. Auf einer vom Ende des Jahrhunderts ist es Hochsommer, vielleicht Juli. Es ist gegen Mittag, die Schatten der Kastanienbäume sind kurz. Die Promenade war »kühl sogar zu Mittag in der Hitze des Hochsommers«, wie es bei einem Dichter aus Odessa heißt. Eine Frau mit Sonnenschirm geht die Promenade entlang, weg von der Puschkin-Statue, ein Kindermädchen schiebt einen riesigen schwarzen Kinderwagen. Man kann gerade noch die Kuppel der Zahnradbahn ausmachen, die die Leute zum Hafen hinunterbringt. Dahinter bilden die Masten der in der Bucht liegenden Schiffe eine Linie am Horizont.
Wendet man sich oben an der Treppe nach links, blickt man hinunter zur Börse, eine korinthische Villa, ein Ort der Geschäfte. Heute ist dort das Rathaus, eine Flagge heißt eine belgische Delegation willkommen. Es ist Anfang November und so mild, dass wir in Hemdsärmeln die Straße entlangschlendern. Wir gehen an einigen Villen vorüber, dann am Rathaus; drei Häuser weiter ist das Bankhaus Efrussi, das Haus der Familie steht nebenan. Hier wurden Jules, Ignaz und Charles geboren. Hier wurde Viktor geboren. Wir gehen nach hinten.
Es sieht grässlich aus. Der Verputz blättert in großen Brocken ab, die Balkone hängen schief, die Putti scheinen von ihren Plätzen zu rutschen. Als ich näher komme, bemerke ich, dass am Haus auch einiges erneuert wurde, es ist frisch verputzt, und die Fenster sind sicher nicht original. Aber ganz oben ist ein einzelner Balkon, an dem das Doppel-E der Familie überdauert hat.
Ich zögere. Thomas, der sich in solchen Situationen auskennt, unbefangen ist, geht durch die zerbrochenen Torflügel unter dem Torbogen in den Hof hinter dem Efrussi-Haus. Hier sind die Stallungen mit ihren Böden aus dunklem Stein. Ein Schotterbett, sagt er über die Schulter hinweg, Lava aus Sizilien, der auf den Getreidefrachtern mitgebracht wurde. Weizen hinaus, Lava zurück. Ein Dutzend Männer, plötzlich in Schweigen verfallen, trinken Tee, ein Citroen 2CV steht aufgebockt da. Ein angeketteter
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