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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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Tempo … herumsausen und dass die Meeresbrisen ständig durch die Straßen fegen, dann ist die Feststellung, dass Odessa in einer Wolke lebe, keine Redewendung.« Es war eine Stadt, die auf Geld aus war: Laut Mark Twain wirken »Straßen und Läden geschäftig; rasch dahineilende Menschen; ein vertrautes Ansehen von Neuheit an den Häusern, ja, und ein wehender, erstickender Staub …« Es leuchtet mir plötzlich ein, dass die Efrussi-Kinder im Staub aufwuchsen.
    Thomas und ich haben uns mit Sascha verabredet, einem adretten Wissenschaftler in den Siebzigern. An der Ecke trifft er einen alten Freund, einen Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft;
    wir gehen zusammen Richtung Schule, Tom und Sascha unterhalten sich auf Russisch, der Professor und ich auf Englisch über das International Shakespearian Institute. An der Schule angekommen, verabschiedet sich der Professor, und wir drei setzen uns ins Parkcafe, trinken stark gesüßten Kaffee, während die drei Prostituierten an der Bar uns anfunkeln und in Abständen mit Musik aus der Jukebox überschütten. Ich erzähle Sascha, warum wir gekommen sind, dass ich ein Buch schreibe über - ich stocke und halte inne. Ich weiß nicht mehr, ist es ein Buch über meine Familie, über Erinnerung, über mich, oder immer noch ein Buch über kleine japanische Sachen?
    Höflich erzählt er mir, dass Gorki Netsuke sammelte. Wir trinken noch einen Kaffee. Ich habe den Umschlag mit den Dokumenten dabei, die ich in Iggies Wohnung in Tokio zwischen den alten Heften des Architectural Digest gefunden habe. Sascha ist entsetzt, dass ich die Originale mitgebracht habe und keine Kopien; aber ich sehe, wie er die diversen Papiere anfasst - wie ein Pianist.
    Es gibt Unterlagen zum ehrwürdigen Ignaz, dem Erbauer des Palais, als Konsul für die schwedische und norwegische Krone, eine Benachrichtigung vom Zaren, dass er eine bessarabische Medaille tragen darf, Unterlagen vom Rabbinat. Das ist das alte Papier, sagt Sascha, das wurde 1870 geändert, das ist der Stempel, das ist die Gebühr. Hier ist die Unterschrift des Gouverneurs, immer so kräftig, schauen Sie, sie drückt sich fast durch das Papier. Sehen Sie sich diese Adresse an, Ecke X und Y! Typisch Odessa. Das ist eine Beamtenkopie, schlampig ausgefertigt.
    Während Sascha die mürb-trockenen Dokumente in den Händen hält und sie neues Leben gewinnen, sehe ich mir zum ersten Mal den Umschlag an. Er ist in Viktors Handschrift adressiert, aus Kövecses im September 1938 an Elisabeth geschickt. Dieses Bündel Dokumente bedeutete Viktor und Iggie etwas. Es war das Familienarchiv. Ich stecke sie vorsichtig wieder ins Kuvert.
    Auf dem Weg zurück ins Hotel treten wir in eine Synagoge. Die Juden aus Odessa, so hieß es, waren so weltlich, dass sie ihre Zigaretten an deren Mauern ausdrückten. Ein Kreis der Hölle sei extra für sie vorgesehen. Heute herrscht reger Betrieb. Junge Männer aus Tel Aviv betreiben hier eine Schule. Sie restaurieren einen Teil des Gebäudes, einer der Schüler kommt her und begrüßt uns auf Englisch. Wir schauen hinein, wollen nicht stören; da sehe ich vorne links den gelben Lehnstuhl. Es ist ein Sedersessel, der Sessel für die Auserwählten, der Besondere, für sich Stehende.
    Charles’ gelber Lehnstuhl war unsichtbar, obwohl deutlich und klar zu sehen. Er war so offensichtlich, dass er zwischen den Degas und den Moreaus und dem Schrank mit den Netsuke in seinem Pariser Salon verschwand. Es ist ein Kalauer, ein jüdischer Witz.
    Während ich vor dem Museum mit der Statue des ringenden Laokoon stehe, diejenige, die Charles für Viktor zeichnete, wird mir klar, wie sehr ich mich geirrt habe. Ich dachte, die Jungen hätten Odessa verlassen, um in Wien und Paris ihre Ausbildung zu absolvieren. Ich dachte, Charles sei auf seine Grand Tour gegangen, um seinen Horizont zu erweitern, um aus der Provinz wegzukommen und etwas über die Klassiker zu lernen. Aber diese ganze Stadt ist eine über dem Hafen schwebende klassische Welt. Hier, wenige Meter von ihrem Haus am Boulevard, stand ein Museum mit Räumen voller antiker Fundstücke, griechischer Artefakte, ausgegraben, als aus der Kleinstadt eine Großstadt wurde, die jedes Jahrzehnt um die Hälfte wuchs. Natürlich gab es in Odessa Gelehrte und Sammler. Nur weil es eine staubige Stadt war mit Hafenarbeitern und Matrosen, Heizern, Fischern, Tauchern, Schmugglern, Abenteurern, Schwindlern und ihrem Großvater Joachim, dem großen Glücksritter in seinem

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