Der Hase mit den Bernsteinaugen
Ich wandere im Zimmer auf und ab, nicht sicher, ob ich noch mehr Kuverts mit Überraschungen verkraften kann.
Ich sehe empor zu den aus dem Palais geretteten Bildern, die in Viktors Arbeitszimmer am Ende des Flurs zu hängen pflegten, auf den goldschimmernden Wandschirm mit den Schwertlilien, den Iggie in den 1950er Jahren in Kyoto gekauft hat. Ich nehme eine alte chinesische Schale mit tief eingeschnittenen Blütenblättern in die Hand. In den Einschnitten ist grüne Glasur. Dreißig Jahre kenne ich sie jetzt, denke ich, und sie fühlt sich immer noch gut an.
Dieser Raum war so lange Teil meines Lebens, dass ich ihn nicht einfach betrachten, mich davon distanzieren kann. Ich kann ihn nicht inventarisieren wie Charles’ Räume in der Rue de Monceau und der Avenue d’Iena oder Emmys Ankleidezimmer in Wien.
Gegen Morgen schlafe ich ein.
Jiro versteht sich aufs Frühstückmachen. Wir trinken exzellenten Kaffee, essen Papaya und winzige pains au chocolat von einer Bäckerei an der Ginza. Und dann atmen wir tief durch, und er erzählt mir zum ersten Mal von dem Tag, an dem der Krieg endete; wie er sich am 15. August 1945 von einer leichten Rippenfellentzündung erholte und sich langweilte. Er war nach Tokio gekommen, um einen Freund zu besuchen, und sie fuhren mit dem Nachmittagszug heim nach Izu. »Es war nicht leicht, Zugkarten zu bekommen; wir plauderten im Zug und sahen plötzlich Frauen in bunten Kleidern. Wir konnten es nicht glauben. Jahrelang hatten wir nichts Farbiges gesehen. Und dann hörten wir die Nachricht, dass ein paar Stunden zuvor die Kapitulation verkündet worden war.«
Wir sprechen über die Reisen, die ich auf der Suche nach der Geschichte der Netsuke unternommen habe, das Vagabundieren. Wir sehen uns die Fotos an, die ich in Paris und Wien aufgenommen habe, und ich zeige ihm einen Ausschnitt aus der Zeitung von letzter Woche. Ein rosa-goldenes Faberge-Ei, das geöffnet einen diamantenbesetzten Hahn sehen lässt - in Auftrag gegeben von Iggies Großtante Beatrice Ephrussi-Rothschild -, ist das derzeit teuerste russische Kunstobjekt, das je in einer Auktion verkauft wurde. Und da wir in Iggies ehemaliger Wohnung sitzen, macht Jiro die Vitrine noch einmal auf und fasst hinein, um ein Netsuke herauszunehmen.
Dann schlägt er vor, wir sollten abends ausgehen. Es gebe da ein neues Restaurant, von dem er Gutes gehört habe, und danach könnten wir uns einen Film ansehen.
Ein Astrolabium, eine Mensula, ein Globus
Es ist November, ich muss nach Odessa fahren. Beinahe zwei Jahre ist es jetzt her, seit ich diese Reise begonnen habe, und ich bin überall gewesen außer in der Stadt, die der Ausgangspunkt der Familie Ephrussi war. Ich möchte das Schwarze Meer sehen und mir die Getreidespeicher am Hafen vorstellen. Wenn ich in dem Haus bin, in dem Charles und mein Urgroßvater Viktor geboren wurden, vielleicht werde ich dann verstehen. Ich bin nicht sicher, was. Warum sie fortgegangen sind? Was es bedeutet, fortzugehen? Ich glaube, ich suche nach einem Anfang.
Ich treffe Thomas, meinen jüngsten Bruder, den größten, er ist mit dem Taxi aus Moldawien gekommen. Er ist Experte für den Kaukasuskonflikt. Fünf Stunden hat er für die Fahrt gebraucht. Thomas, der seit Jahren die Geschichte der Efrussi in Odessa erforscht und Russisch spricht, ist abgeklärt, was Grenzen anlangt. Er ist aufgehalten worden, lacht, immer ein Problem, soll man bestechen oder nicht? Ich mache mir Sorgen wegen der Visa, er nicht. Fünfundzwanzig Jahre lang sind wir nicht mehr miteinander gereist, seit wir als Studenten auf den griechischen Inseln unterwegs waren. Andrei, der moldawische Taxifahrer, fährt los.
Wir rattern durch die Außenbezirke voller heruntergekommener Wohnblocks und verfallender Fabriken, werden von riesigen schwarzen Allradwagen mit getönten Scheiben und von alten Fiats überholt, bis wir in die breiten Avenuen des alten Odessa kommen. Niemand hat mir gesagt, dass es so schön ist, meine ich vorwurfsvoll zu Thomas, dass neben dem Pflaster Trompetenbäume wachsen, dass man durch offene Türen einen Blick in Innenhöfe werfen kann, flache Eichenstufen, Balkone. Einiges in Odessa wird restauriert, Mauerwerk erneuert, Stuck wieder angestrichen, während andere Gebäude mit hängenden Kabelschleifen, durchsackenden Dächern, schief in den Angeln schwingenden Türen und fehlenden Säulenkapitellen in Piranesischer Verkommenheit versinken.
Wir bleiben vor dem Hotel Londonskya stehen, einem
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