Der Hase mit den Bernsteinaugen
Gefühl des Biographen, mich unbefugt am Rand des Lebens anderer Menschen herumzutreiben. Lass es einfach. Lass es liegen. Hör auf zu suchen und Dinge aufzuheben, beschwört mich die Stimme. Fahr heim und lass diese Geschichten.
Aber es zu lassen ist schwer. Ich erinnere mich an das Zögern, als ich mich mit dem alten Iggie unterhielt: Zögern, das in Schweigen verzitterte, ein Schweigen, das Verluste andeutete. Ich denke an Charles in seiner Todeskrankheit und an den Tod Swanns und wie man sein Herz aufschließt wie eine Vitrine, wie eine Erinnerung nach der anderen herausgenommen wird. »Selbst wenn man nicht mehr an den Dingen hängt, ist es nicht unbedingt gleichgültig, ob man daran gehangen hat, denn immer ist es aus Gründen gewesen, die den anderen entgehen.« Es gibt Orte in der Erinnerung, an die man nicht mit anderen gehen möchte. In den 196oern verbrannte meine Großmutter Elisabeth, eine so fleißige Briefschreiberin, eine Anwältin der Briefe (»schreib es noch einmal, ausführlicher«) die Hunderten Briefe und Zettel, die sie von ihrer poesiebegeisterten Großmutter Evelina erhalten hatte.
Nicht: »Wen interessiert das schon?« Sondern: »Komm dem nicht zu nahe. Das ist privat.«
Als sehr alte Frau sprach sie nie über ihre Mutter. Sie redete über Politik und französische Lyrik. Sie erwähnte Emmy nicht, bis eines Tages plötzlich ein Foto aus ihrem Gebetbuch fiel. Mein Vater hob es auf, und sie sagte ihm ganz nüchtern, das sei einer der Liebhaber ihrer Mutter, und begann darüber zu reden, wie unangenehm diese Liebesaffären gewesen seien, wie sie sich dadurch kompromittiert gefühlt habe. Und dann wieder Schweigen. Etwas ist am Verbrennen dieser Briefe, das mich innehalten lässt: Warum sollte alles deutlich gemacht und ans Licht gezerrt werden? Warum sollte man Dinge aufheben, seine Intimitäten archivieren? Warum sollte man nicht dreißig Jahre Gedankenaustausch in Rauchfahnen in die Luft von Tunbridge Wells verkräuseln lassen? Nur weil man etwas hat, bedeutet das nicht, dass man es weitergeben muss. Etwas zu verlieren kann manchmal Raum schaffen, in dem man leben kann. Wien fehlt mir nicht, pflegte Elisabeth leichthin zu sagen. Es war klaustrophobisch. Es war sehr düster.
Sie war über neunzig, als sie einmal erwähnte, sie habe als Kind rabbinischen Unterricht erhalten: »Ich fragte meinen Vater um Erlaubnis. Er war verblüfft.« Sie sagte das so sachlich, als wüsste ich es schon.
Als sie zwei Jahre später starb, stand da mein Vater, der in Amsterdam geborene Geistliche der Church of England, der seine Kindheit an verschiedenen Orten in Europa verbracht hatte, in seinem benediktinisch-schwarzen, rabbinisch-schwarzen Habit und sagte in der Pfarrkirche in der Nähe ihres Pflegeheims Kaddisch für seine Mutter.
Das Problem ist, ich bin im falschen Jahrhundert, um Sachen zu verbrennen. Ich bin die falsche Generation, um loszulassen. Ich denke an eine feinsäuberlich in Kisten verpackte Bibliothek. Ich denke an all die gründlichen Verbrennungen der anderen, das systematische Auslöschen von Geschichten, das Auseinanderreißen von Menschen und ihren Besitztümern, dann von Menschen und ihren Familien, ihrer Umgebung. Und dann von ihrem Land.
Ich denke an jemanden, der eine Liste kontrolliert, um sicherzugehen, dass diese Menschen noch am Leben und in Wien wohnhaft sind, bevor er »Sara« oder »Israel« über ihre Geburtsurkunde stempelt. Ich denke an die Familienlisten in den Papieren für die Deportation.
Wenn andere bei wichtigen Dingen so gründlich sein können, dann muss ich ebenso gründlich mit diesen Objekten und ihren Geschichten umgehen. Ich muss das hinbekommen, noch einmal checken, noch einmal hingehen.
»Glauben Sie nicht, dass diese Netsuke in Japan bleiben sollten?«, meint eine strenge Nachbarin in London. Und ich merke, wie ich zittere bei meiner Antwort, denn das ist wichtig.
Ich sage ihr, es gebe viele Netsuke auf der Welt, sie liegen auf samtüberzogenen Regalen in den Schränken der Händler um die Bond Street oder Madison Avenue, die Keizersgracht oder die Ginza. Dann schweife ich ein wenig auf die Seidenstraße ab, dann zu den Münzen Alexanders des Großen, die noch im 19. Jahrhundert im Hindukusch in Umlauf waren. Ich erzähle ihr, wie ich mit meiner Gefährtin Sue in Äthiopien unterwegs war, auf einem Markt einen alten, staubbedeckten chinesischen Krug fand und herauszufinden versuchte, wie er dorthin gekommen war.
Nein, entgegne ich. Objekte sind immer
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